Greilsheimer, Josef und Mirjam (geb. Barth)

Josef Greilsheimer, genannt Herschel Sepp, wurde in Friesenheim geboren, am 27. Mai 1878. Er wohnte in der Hauptstraße 95 und war Viehhändler. Mehrfach wurde mir berichtet, dass er „jedem Armen eine Kuh in den Stall gestellt“ hat, bezahlen konnte er später, wenn durch den Verkauf der Milch Geld ins Haus gekommen ist. Er war der letzte Vorsteher der jüdischen Gemeinde Friesenheims.
 
Seine Frau Miriam, geb. Barth, war 14 Jahre jünger als er (geb. 6. Februar 1893). Sie sei eine liebe Frau gewesen, hörte ich oft. Wenn die Kinder für sie etwas eingekauft haben oder ihr Blumen gebracht haben, bekamen sie ein Stück Matzen. Besonders Sumpfdotterblumen mochte sie. Viel Abwechslung gab es für die Kinder damals nicht. Da sind sie gerne zu den Wiesen hinter der Mühle gegangen und haben Blumen gepflückt.

Die Kinder halfen beim Holz reintragen und zündeten am Freitag-Abend und Samstag-Morgen das Feuer im Herd in der Küche und im Ofen in der Stube an, weil es Juden am Schabbat verboten ist, zu arbeiten. Frau Greilsheimer hatte das Papier und das Anmachholz gerichtet, sie brauchten es nur reinstecken und anzünden, wie sie es zuhause auch taten. Eigene Kinder hatten das Ehepaar Greilsheimer nicht.
 
Wahrscheinlich wurde Josef Greilsheimer nach der sogenannten Reichkristallnacht im November 1938 auch verhaftet und nach Dachau in „Schutzhaft“ gebracht. Die Lahrer SS hatte den Befehl alle männlichen Juden festzunehmen. Es ist nur eine Vermutung. Vielleicht war der damals 60jährige auch schon zu krank.
 
Am 22. Oktober 1940 wurden neun in Friesenheim lebenden Juden nach Gurs deportiert. Die Eheleute Greilsheimer blieben als einzige Juden in ihrem Heimatdorf zurück. Das für die Abschiebungsaktion vorbereitete Merkblatt schrieb den ausführenden Beamten vor, „bettlägerige und schwer kranke“ Menschen von der Deportation auszunehmen. Herr Greilsheimer war krank, er lag mit Lungenentzündung im Bett. Seine Frau Mirjam hatte für seine Pflege zu sorgen und konnte deshalb auch in Friesenheim bleiben.
 
Die beiden waren gezwungen, weitere antijüdische Verordnungen und Gesetze mit zu erleben. So mussten sie ab dem 1. September 1941 einen gelben Judenstern an der Kleidung tragen. Ab Oktober 1941 hätten sie nur noch mit schriftlicher Genehmigung Friesenheim verlassen dürfen und das auch nur, ohne öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen.
 
Miriam Greilsheimer fragte manchmal den Nachbarn, Michel Erb, ob sie zu ihnen kommen könnte. Ihr würde daheim die Decke auf den Kopf fallen mit dem kranken Mann und ohne die jüdischen Freunde. Sie durfte gerne kommen. Wenn sie wieder nach Hause gehen wollte, mussten die Kinder erst in die Mühlgasse stehen und schauen, ob niemand unterwegs ist.
 
Am Morgen des 9. April 1942 traf Paula Ernst ihren Nachbarn Josef Greilsheimer in der hinter seinem Haus gelegenen Mühlgasse. Sie wunderte sich nicht, dass er einen Strick in der Hand hatte. Schließlich war er Viehhändler gewesen, da gehörte ein Strick zum Handwerkszeug. Als er gesucht wurde und sie in den Obstplantagen hinter dem Haus nach ihm geschaut hatte, erinnerte sie sich mit einer furchtbaren Vorahnung an den Strick. Josef Greislheimer hatte sich am Vormittag in der Scheune hinter seinem Wohnhaus aufgehängt. Eine Kommission nahm den Fall auf, Schaulustige kamen sofort und der Bezirksarzt kam am nächsten Tag. Josef Greilsheimer wäre im nächsten Monat 64 Jahre alt geworden.

Dem Ehepaar Greilsheimer war einige Tage vor dem Tod von Josef Greilsheimer mitgeteilt worden, dass sie am 26. April 1942 nach Polen gebracht werden sollten. Am Vortag hatte die Sozialarbeiterin Henny Wertheimer im Auftrag der jüdischen Bezirksstelle Baden-Pfalz ihnen noch beim Koffer packen geholfen, sie hatte von Selbstmordabsichten nichts bemerkt.

Wenn man das Ende des Josef Greilsheimer als Freitod bezeichnet (wie im Ortssippenbuch oder im Büchlein von Jürgen Stude) oder gar sagt, er habe den Freitod vorgezogen, entsetzt mich das zutiefst. Hat er gewusst, was ihn erwartet?
 
Seine Frau Miriam musste nun auch noch den Tod ihres Mannes ertragen. Im Memor-Buch zum jüdischen Friedhof Schmieheim heißt es, er sei dort bestattet. Einen Grabstein gibt es nicht. Konnte er nach jüdischen Ritual beerdigt werden?

Am 26. April 1942 wurde Mirjam Greilsheimer nach Stuttgart verbracht und von dort nach Izbica bei Lublin in Polen verschleppt. Damals war sie 46 Jahre alt. Nach dem Krieg wurde sie offiziell als „verschollen“ bezeichnet.
 
 
Brief von Henny Wertheimer an Eisenmann von der jüdischen Bezirksstelle Baden-Pfalz:
„Heute komme ich spät vom Außendienst heim und will trotzdem noch diese Zeilen zur Post bringen. Leider muß ich ihnen eine Hiobsbotschaft melden. Herr Jos. Greilsheimer von Friesenheim hat sich heute Vormittag erhängt. Gestern Nachmittag war ich dorten und packte den Leuten noch die Koffer, aber von Selbstmordabsichten merkte ich nichts bei ihm, er war stark herzleidend. Mein Mann und ich stehen den Leuten nach Kräften bei, es ist nur gut, daß die Mutter jetzt bei ihr ist.
Lieber Herr Doktor, ich habe noch schwere Aufgaben zu bewältigen. Nachdem mir heute das Telegramm vom Tod des Herrn Jos. Greilsheimer nach Schmieheim nachgeschickt wurde, fuhr ich noch abends von Kippenheim nach Friesenheim, mein Mann war schon dort, eine Kommission hatte schon alles aufgenommen. Morgen kommt der Bezirksarzt, es ist alles so schrecklich traurig! Ich bin heute über 20 Kilometer zu Fuß gelaufen und bin todmüde.
 Hoffentlich bekomm ich bald Bescheid von Ihnen wegen der Aufnahme meiner Kranken nach Mannheim. Ich weiß, Herr Doktor, auch sie haben schwere Sorgen und müssen ihren Kopf beisammen halten. Schließlich geht auch dies vorüber, wie alles im Leben, Kosmisches Gesetz!
Mit freundlichen Grüßen Frau Henny Wertheimer 
Ich bitte noch um ein paar Sterne zum Aufnähen an die Kleider“.
 
 
Antje Loleit-Kuhlen
Friesenheim 2004

Dreifuss, Alice

Alice Dreifuss wurde am 3. April 1910 in Altdorf geboren. Sie war Tochter des koscheren Metzgers Leopold Dreifuss und seiner Frau Léonie, die aus dem Elsass stammte. Alice hatte einen Bruder, Siegfried, der später in Straßburg arbeitete. Einige erhaltene Photos, die Alice im Kreise ihrer Freundinnen und in einem Faschingskostüm zeigen, lassen vermuten, dass sie eine fröhliche Kindheit hatte. Alice lebte noch zu Hause, als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht übernahmen. Sie musste am 10. November 1938, dem Pogromtag, miterleben, wie ihr Vater mit den anderen jüdischen Männern Altdorfs abgeholt und für einige Wochen in das Konzentrationslager Dachau verbracht wurde.

Nach seiner Freilassung aus Dachau beschloss die Familie, nach Frankreich zu fliehen, doch nur die Mutter durfte einreisen, da sie geborene Elsässerin war. Es gibt in der Familie eine Überlieferung, dass die Einreise von Alice auch daran gescheitern sein könnte, dass sie sich in früheren Jahren bei einem Aufenthalt in Frankreich als deutsche Patriotin geäußert haben soll. Alice und ihr Vater Leopold erhofften sich nun Schutz durch eine Niederlassung in Berlin, dessen jüdischer Gemeinde 1939 noch etwa 80.000 Menschen angehörten. Sie fanden eine Unterkunft in Berlin-Mitte, unweit der Neuen Synagoge und wohnten zur Untermiete bei der Berliner jüdischen Familie Fischel. Per Briefverkehr hielten Vater und Tochter Kontakt mit der Mutter Léonie und dem Sohn Siegfried. Alice schrieb: „Das Heimweh nach der guten alten Zeit Altdorfer könnt Ihr sicher nachfühlen u. wollen wir zum lieben Gott hoffen, dass er uns noch mal ein ähnliches Dasein in Gesundheit und Frieden erleben lässt. Amen.“

Leopold und Alice wurden aus dem Vermögen einer Verwandten unterstützt, das jedoch durch das Finanzamt in Berlin Moabit eingezogen wurde, als diese auswanderte. Alice musste zu diesem Zeitpunkt bereits Zwangsarbeit bei den Berliner Siemenswerke leisten. Schichtarbeit prägte ihren Tagesablauf, der oft schon morgens um vier Uhr begann. Nach Einschaltung eines Rechtsvertreters gelang es, wenigstens für Leopold die regelmäßige Unterstützung aus dem beschlagnahmten Vermögen erhalten.

Leopold wurde im Juli 1942 in das deutsche Ghetto-Lager Theresienstadt verschleppt. Alice gehörte zu den Zehntausenden jüdischer Zwangsarbeiter, die zunächst weiter in der Industrie und Rüstungsproduktion eingesetzt wurden. Noch vor der systematischen Verhaftungswelle gegen diese Menschen, die im Februar 1943 begann, erhielt Alice die Aufforderung, sich zum Abtransport bereit zu halten. Mit mindestens 1.000, möglicherweise jedoch 1.200 Juden und Jüdinnen aus Berlin bestieg sie am 12. Januar 1943 einen Deportationszug, der nach Auschwitz abging. Nur 127 männliche Verschleppte dieses Transportes erhielten nach den Lagerver-zeich¬nissen eine Tätowierungsnummer. Alle anderen wurden unmittelbar nach Ankunft in den Gaskammern ermordet. Unter ihnen befand auch Alice Dreifuß.

Dr. Uli Baumann
Berlin

Reckendorf, Lilly

29.August 1889: Cäcilie Reckendorf , genannt Lilly (Lili), kommt als älteste Tochter von Frieda und Dr. Hermann Reckendorf in Heidelberg zur Welt.

1904: Als Kind jüdischer Eltern wird sie evangelisch getauft, um zusammen mit ihrem Bruder Otto eine Reise nach Russland antreten zu können , die jedoch nie stattfindet.

1907: Sie besucht die höhere Mädchenschule in Freiburg und legt dort das Examen für evangelische Religionslehrerinnen ab.

1909: Als erste Lehrerin in Hausen bei Lörrach nimmt sie ihren Dienst auf.

Juli 1925: Lilly Reckendorf wird zur Fortbildungshauptschullehrerin an der Mädchenfortbildungsschule Lahr, die der Friedrichschule angegliedert ist, ernannt und unterrichtet dort bis 1933.

Januar 1930: Sie nimmt für vier Wochen Dieter Roland bei sich auf, als dessen Vater Otto im Sterben liegt und kümmert sich intensiv um seinen Sohn. Der Kontakt zu Familie Roland hatte Lilly Reckendorf in ihrem Glauben entscheidend geprägt. Otto Roland war evangelischer Pfarrer und in der Jugendarbeit engagiert. Dieter Roland besucht die Luisenschule, wird später Kinderarzt in Lahr und ist der Spender des ersten Stolpersteins in Lahr für Lilly Reckendorf.[1]

7. April 1933: Als „Judenchristin“ fällt sie unter das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und erhält Berufsverbot wegen ihrer jüdischen Abstammung. Sie betrachtet sich selbst als vollwertige Christin und hat mit der jüdischen Bevölkerung wenig Kontakt.

22. April 1933: In ihrer Not wendet sie sich an den emeritierten Kirchenpräsidenten der evangelischen Landeskirche D. K. Wurth, der sich außerstande sieht „aufgrund der Überfremdung unseres Volkes“ [2]ihrem Anliegen zu entsprechen.

September 1933: Ihre Zwangspensionierung wird wirksam. Sie meldet sich in Lahr ab und kehrt in ihre Heimatstadt Freiburg zurück. In der Holbeinstr. 5 bewohnt sie ein Zimmer im Haus von Witwe Lenel und deren Tochter Berta. Beide sind ebenfalls jüdischer Herkunft. Lilly Reckendorfs Wohnung befindet sich unweit ihres Elternhauses in der Maximilianstr. 34.

Jahreswechsel 1939/40: Lilly Reckendorf besucht die drei Geschwister Roland in Grötzingen bei Nacht, die kurz zuvor Waisen geworden waren. Ihre Unterstützung bei der Auflösung deren Wohnung ist für lange Zeit ihre letzte Begegnung.

22. Oktober 1940: Zusammen mit über 6500 weiteren Juden aus Baden, dem Saarland und der Pfalz wird sie in das französische Konzentrationslager Gurs deportiert. Sie wird Sprecherin von Baracke 9. Es gelingt ihr, seelsorgerisch tätig zu werden und damit die unerträglichen Zustände des Lagerlebens zu mildern.[3]
Februar 1942: Drei Wochen vor Beginn der Transporte der Internierten in die Lager im Osten kann sie Gurs verlassen und ein Protestantenheim in den Cevennen, nahe der Loirequelle, beziehen. Ihr Weg führt sie in die französischen Alpen. Im  Kloster „Couvent de la Croix“ in Chavanod, Haute Savoye[4]hält sie sich für mehrere Monate auf.

22. Januar 1943: Lilly Reckendorf verlässt das Kloster. Mit Hilfe einer überkonfessionellen Pfadfindergruppe gelingt ihr die abenteuerliche Flucht über die französisch-schweizerische Grenze. Sie findet Zuflucht in der Rheingasse 76 in Basel.

1943-1946: Anhand von Tagebuchaufzeichnungen schreibt sie ihre Erinnerungen nieder und bereitet ihre Rückkehr nach Freiburg vor.

8. Mai 1946: Sie richtet Wiedergutmachungsansprüche Privatpersonen und Behörden betreffend an die Feststellungsbehörde in Freiburg. Diese wickelt erstere nur zögerlich ab.[5]

10. April 1947: Das Badische Ministerium des Innern stellt bei Lilly Reckendorf israelitische Konfession fest. Aufgrund des Reichsbürgergesetzes vom 25. November 1941 habe sie die deutsche Staatsangehörigkeit verloren. Ein Wiederaufleben derselben sei nicht zwangsläufig gegeben. Ihre Wiedergutmachungsansprüche verzögern sich weiterhin.

16. Juni 1948: Lilly Reckendorf verzichtet auf die Rückerstattung ihres zwangsenteigneten Elternhauses in der Maximilianstr. 34, das von Alfred Bea und seiner Frau käuflich erworben worden war. Ihm hatte Lilly Reckendorf von Basel aus Vollmacht erteilt, sie vor Gericht in ihren Wiedergutmachungsansprüchen zu vertreten.

1948: Sie kehrt nach Freiburg zurück und bewohnt eine kleine Wohnung in der Maximilianstr. 30. Für zwei Jahre nimmt sie ihren Beruf als Lehrerin nochmals auf.

4. Januar 1952: Vor der Restitutionskammer des Badischen Landgerichts in Freiburg schließen Lilly Reckendorf und die Eheleute Bea bezüglich des Elternhauses von Lilly Reckendorf eine gütliche Vereinbarung. Lilly Reckendorf erhält 4.400 DM als Abfindung. Weitere Ansprüche, die sie dem Staat gegenüber geltend machte wie ihre Zwangsenteignung, oder Gehaltseinbußen wegen Zwangspensionierung, bleiben weiterhin unbearbeitet.

April 1952: Lilly Reckendorf erkrankt schwer und erliegt einem Krebsleiden. Sie findet ihre letzte Ruhestätte im elterlichen Grab, das sich noch heute an der Westmauer des Freiburger Hauptfriedhofs befindet. Pfarrer Krastel, langjähriger Seelsorger der Christusgemeinde Lahr hält die Trauerrede. Zu ihm wie zu Familie Roland und weiteren ihr nahe Stehenden brach der Kontakt zeitlebens nicht ab.

Gardy Ruder
Initiative Stolpersteine in Lahr

[1]  Bericht in der Badischen Zeitung vom 03.Mai 2003, Ausgabe Ortenau
[2]  Akte Landeskirchliches Archiv, Generalie 3206
[3] „Wir gingen stumm und tränenlos“, veröffentlicht in „Allmende Nr. 45,  15. Jahrgang 1995, sowie „Alemannisches Judentum“, Hg.: Manfred Bosch; Edition Klaus Isele, Eggingen 2001
[4]   Unveröffentlichtes Manuskript, zweiter Teil ihrer Erinnerungen an die Deportation von Freiburg nach Gurs am 22. Oktober 1940 und die nachfolgenden Erlebnisse bis zu ihrer Flucht in die Schweiz 1943
[5]   Staatsarchiv Freiburg, Bestand F 200/7, Nr. 1255

Pfeifer, Lydia

Pfeifer LydiaWegen ihrer Epilepsie lebte Lydia Pfeifer aus Haßmersheim bei ihren Eltern. Als der Vater, ein Hauptschullehrer im Ruhe­stand, ins Altenheim ging wurde ihr Schwager Ernst Gilbert, Pfarrer in Steinen bei Lörrach, als Vormund einge­setzt. Der Vater verstarb am 4. März 1938. Lydia Pfeifer lebte seit 1. Februar 1938 (abweichende Angabe 1. April 1937) in Kork. Die Familie stand mit ihr in regelmäßigem Briefkontakt. Die Briefe gaben nach Aussagen des Schwagers immer den Eindruck einer gesunden Persön­lich­keit. Bücher und ein Harmoni­um in ihrem Nachlass lassen auf musische Interessen und Aktivitäten schlie­ßen. In der Einrichtung war sie wohl beliebt, so der Schwager.

Vom letzen Besuch in Kork am 25. August 1939 berichtet ihr Schwager: Wir konnten uns damals mit ihr gut unterhalten und sie machte den Eindruck eines gesunden Menschen. Ihr Krankheitszustand wurde erst bei einem Anfall deutlich. Diese Anfälle bekam sie meines Wis­sens nur etwa alle 4 Wochen. Sie war zeitlich und örtlich orientiert und vollständig arbeitsfähig, wenn sie die Anfälle nicht hatte. Die Eintragungen in den Melde­bogen zur Erfassung von Anstaltsinsassen lauten im Herbst 1939: Genuine Epilepsie mit erheb­li­cher We­sensänderung und Demenz“ bezüglich der Arbeitsfähig­keit weist die Durchschrift „leichte mecha­ni­sche Haus- und Handarbeiten“ aus.

Mit der Evakuierung der gesamten Bevölkerung entlang des Rheins nach Kriegsbeginn wurden auch Lydia Pfeifer sowie alle BewohnerInnen und Mitarbeitende in der Anstalt Stetten behelfsmäßig untergebracht. Von hier wurde sie am 28. Mai 1940 nach Grafeneck deportiert. In der Zeit zuvor sei es ihr „ordentlich gegangen“. Der Schwager und seine Frau Martha Gilbert werden am 1. Juni 1940 von Direktor Stolz aus Stetten, darüber informiert, dass Lydia Pfeifer mit unbekanntem Ziel verlegt worden sei. Am 7. Juni1940 empfangen sie diesen Brief. Ernst Gilbert bittet in seinem direkten Antwortbrief um Mitteilung „welcher Er­ass des Ministeriums die Verlegung von Lydia Pfeifer nötig machte. Dass Ihnen die Anstalt unbekannt ist, wohin Lydia verlegt worden ist, ist mir unbegreiflich. … Diese Nachricht wirkt so sonderbar, dass meine liebe Frau als Schwester der Lydia Pfeifer erschrak über diese Nachricht“. Die Schwester schreibt am glei­chen Tag an den Evang. Oberkir­chen­rat. Über den Inhalt des Schreibens bin ich begreiflicher­weise recht empört über eine derartige Hand­lungsweise. Bis heute weiß ich noch nicht, welches der neue Aufent­halts­ort meiner Schwester ist. Ich werde mich per­sönlich an das Ministerium wenden. Hat das Ministe­rium das Recht, Kranke ohne das Wissen der Angehö­rigen, die doch bezahlen, an einem anderen Ort unterzu­brin­gen? Wohin kam Lydia von Ihnen aus? Man muss doch einen Ort angegeben haben? Wurden noch mehr Kranke auf diese Weise aus der Anstalt entfernt? … Gilbert, in einem Brief an Direktor Stolz, der ihn über die Verlegung mit unbekanntem Ziel infor­miertet: „Wenn die Aufnahmean­stalt Ihnen unbekannt blei­ben muss, darf ich wissen, dass Sie Weisung ha­ben, es nicht wissen zu dürfen, obwohl Sie die Aufnahme­an­stalt doch wissen.“ Das Ehepaar ist intensiv um Aufklärung bemüht und schreibt nach Kork, an den Ober­kirchenrat, an das Ministerium ja sogar nach Grafeneck. Die darin gestellten Fragen sind offen und direkt.

Die Todesnachricht aus der Landespflegeanstalt Grafeneck erreichte Familie Gilbert am 18. Juni 1940: Der Tod sei am 15. Juni 1940 infolge „Atemhemmung im epileptischen Anfall“ eingetreten. Kommentiert wurde diese Todesursache durch den Schwager mit den Worten „Atemnot hatte doch Lydia nie gehabt“. An Dire­ktor Stolz, der in Stetten die Belange Korks wahrnahm, schrieb Martha Gilbert noch am selben Tag: Ich bin ganz geschlagen und getroffen. (..) Mir tut es leid, dass ich ihr diese ganzen drei Wochen auch nicht das kleinste Zeichen der Liebe und des Gedenkens zukommen lassen konnte. Gilbert äußerte er sich auf einer Postkarte an den Anstaltsleiter, dass seine „an das Ministerium, an den Oberkirchenrat und nach Grafen­eck gerichtete Anfrage noch keine befriedigende Antwort erhalten habe“.  Die Intervention Pfarrer Gilberts im Juni 1940 führte auch zu einem Protest­schreiben des Evangelischen Oberkirchenrats an das badische Innenmini­sterium am 19. Juni 1940. Darin richtete sich der Protest jedoch nicht gegen die Krankenmorde sondern lediglich gegen die Verlegungspraxis.

In einem Schreiben an die Anstalt Grafeneck forderte Martha Gilbert Auskünfte über das Schicksal ihrer Schwester und fragte direkt nach „Was hat man an diesen armen Menschen vorgenommen?“. Die Reaktion vom 28. Juni 1940 aus Grafeneck: „Falls Sie mir binnen acht Tagen darüber keine Aufklärung zugehen lassen und diese Verdächtigungen mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknehmen, sehe ich mich gezwun­gen, Ihr Schreiben der Geheimen Staatspolizei zu übergeben, die dann vielleicht auch über Sie die böswil­ligen Verdächtigungen, die von der Anstalt Kork gegen uns ausgehen, aufdecken kann.“ Lydia Pfeifer wurde beim ersten Transport am 28. Mai 1940 mit insgesamt 70 Frauen und Mädchen nach Grafeneck deportiert. Das Auswahlkriterium für die Ermordung: weiblich.

In Würdigung der bemerkenswerten Offenheit, des entschlossenen Bemühens um Aufklärung sowie des Widerstands benannte die Diakonie Kork einen Weg und ein Wohnhaus nach Lydia Pfeifer.

 
Klaus Freudenberger
Kork

Ebstein, Hedy (geb. Wachenheimer)

Hedy EbsteinHedy Epstein wurde als Hedwig Wachenheimer, Kind jüdischer Eltern, am 15.8.1924 in Freiburg i. Br. Geboren, wuchs jedoch in Kippenheim auf. Ihre Eltern Hugo und Ella Wachenheimer besaßen ein Manufaktur­warengeschäft nicht weit vom Wohnhaus entfernt. Hedys Vater hatte im ersten Weltkrieg der deutschen Armee gedient und war nun Träger eines Ordens. Seine Familie lebte schon seit mehreren Generationen in Kippenheim. Ebenfalls lebte dort Hedys Onkel mit seiner Frau. Die Familie von Hedys Mutter hingegen lebte in Hanau, nahe Frankfurt/Main.
 
Bis sie zur Schule kam, wusste Hedy nicht, dass sie jüdisch war. Sie begleitete ihre Eltern an Jom Kippur und Rosch Haschana in die Synago­ge, besuchte jedoch zusammen mit dem katholischen Hausmädchen Paula auch christliche Gottesdienste, die sie viel schöner fand. Für Hedy hatten diese Besuche nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun, sondern waren einfach nur Begegnungen mit zwei verschiedenen Orten der reli­giösen Andacht. Dass sie Jüdin war, spielte erst eine Rolle, als sie in die Kippenheimer Volksschule kam. Ihre Eltern besaßen keine zionistischen Neigungen und galten deshalb, und weil sie sich größtenteils nicht an die jüdischen Bräuche hielten, als Außenseiter in der jüdischen Gemeinde.
 
Als 1933 Hitler an die Macht kam, war Hedy acht Jahre alt. Ihre Eltern versuchten alles, um eine gemein­same Flucht aus Deutschland zu organisieren. Einmal sah es wirklich gut aus; als Hedys Vater einen entfern­ten Verwandten von sich in Chicago ausfindig machte. Dieser erklärte sich jedoch nicht bereit, für die Familie zu bürgen und so war auch diese letzte Möglichkeit auszureisen, zerfallen. Im Frühjahr 1935 wurde Hedy auf dem Realgymnasium in Ettenheim angemeldet. Zuerst wollte der Schulleiter sie nicht aufnehmen, weil sie Jüdin war, als dann aber ihr Vater stumm auf den Orden wies, den er immer stolz trug, beteuerte der Schul­leiter sofort, dass Hedy natürlich aufgenommen sei, er hätte das ja nicht gewusst. Außer Hedy besuchten auch noch fünf andere jüdische Kinder das Realgymnasium, drei davon waren in Hedys Klasse. Die Zahl verringerte sich jedoch von Jahr zu Jahr und so blieb Hedy im Schuljahr 1937/38 als einzige Jüdin in ihrer Klasse übrig. Sie war ziemlich isoliert, und in den Pausen, die für sie zur schrecklichsten Tageszeit wurden, beschimpften die anderen Kinder sie als „Dreckjude“, schlossen sie von den Spielen aus und wechselten kein Wort mehr mit ihr. Doch nicht nur die Schüler machten Hedy das Leben zur Hölle, nein, ganz besonders auch ein Lehrer, Hedys Mathelehrer, stets in SS-Uniform. Er bedrohte Hedy mit dem Revolver, machte sie vor der Klasse lächerlich, und sorgte so dafür, dass Hedy für viele lange Jahre keine noch so leichte Rechenaufgabe mehr lösen konnte und später nur mühselig und mit einigen Problemen einfachere Aufgaben wie z.B. Prozentrechnungen bewältigte, weil diese schrecklichen Erinnerungen sie immer wieder heimsuchten.
 
Am Morgen des 10. November 1938, dem Morgen nach der Pogromnacht, Hedy war auf dem Weg zur Schule, sah sie, dass die Fenster des Hauses und der Praxis des jüdischen Zahnarztes zerbrochen waren. Sie wusste noch nichts von den Geschehnissen in der Nacht, begriff jedoch sofort, dass die Verwüstungen damit zusammenhingen, dass der Zahnarzt Jude war. Hedy setzte ihren Schulweg wie gewöhnlich fort und auch der Unterricht begann pünktlich um acht Uhr. Aber um etwa halb neun betrat der Direktor das Klassen­zimmer und sprach zu den Schülern. Plötzlich zeigte er mit seinem Finger auf Hedy und schrie: „Raus mit dir, du Dreckjude!“ Hedy traute ihren Ohren nicht, sie hatte ihren Schulleiter immer als einen anständigen und freundlichen Mann erlebt. Also bat sie ihn, das Gesagte zu wiederholen. Er tat es und bugsierte Hedy unsanft aus dem Unterrichtsraum. So fand sie sich im Gang wieder und fragte sich, was sie getan hatte. War sie etwa eingeschlafen? Hatte sie einmal nicht aufgepasst? Was sollte sie ihren Eltern sagen?  Bald darauf eilten ihre Klassenkameraden und die anderen Schüler durch den Gang und verschwanden. Wohin? Hedy hatte keine Ahnung. Sie setzte sich wieder an ihren Platz und versuchte zu lernen. Da kam Hans, ein etwas jüngerer, jüdischer Schüler, der ebenfalls aus Kippenheim stammte. Hedy ließ sich nicht stören und lernte weiter; Hans sah aus dem Fenster. Nach etwa eineinhalb Stunden rief er Hedy aufgeregt zu sich. Gemeinsam beobach­teten die beiden, wie eine Gruppe Juden, von SS-Männern, die sie mit Peitschen schlugen, bewacht, die Straße heruntergetrieben wurde. Beunruhigt beschlossen die Kinder daheim anzurufen und um Rat zu fragen, doch bei welchem ihrer Verwandten sie auch anriefen, immer erhielten sie die gleiche erschreckende Antwort: „Der Anschluss ist nicht mehr in Betrieb.“ So fuhren Hedy und Hans ängstlich nach Hause.
 
Als Hedy ihr Wohnhaus erreichte, musste sie feststellen, dass es verriegelt war. Wie von Sinnen lief sie zum Hause ihrer Tante Käthe Wachenheimer. Dort öffneten ihre Mutter und ihre Tante die Tür. Wie das Mädchen danach erfuhr, waren ihr Vater, ihr Onkel und andere Juden aus Kippenheim, kurz nachdem sie sich auf den Schulweg gemacht hatte, abtransportiert worden, Schutzhaft nannten die Nazis das. Zuerst waren die Männer aufs Rathaus gebracht worden, von wo aus man sie nun, wie am Morgen in Ettenheim, die Straße heruntertrieb. Hedy sah ihren Vater, ihren Onkel und viele andere bekannte Gesichter. Wohin wurden sie gebracht? Wann würden sie wieder zu Hause sein? Viele Fragen, auf die man keine Antwort hatte. Zwei Wochen später erreichte eine vorge­druckte Postkarte von Hedys Vater die Familie. Hugo Wachenheimer war im KZ Dachau. Mit allen Mitteln versuchte Hedys Mutter bei der Gestapo etwas für die Beschleunigung der Rückkehr ihres Mannes und der anderen zu bewirken, bis man ihr endlich mitteilte, wenn er bis zum Freitag der Woche nicht zurück sei, wäre er tot. An genau diesem Freitag, vier Wochen nach der Verhaftung, kam Hedys Vater mit den letzten Kippenheimern zurück; als Ella Wachenheimer die Hoffnung ihren Mann jemals wieder- zusehen schon aufgegeben hatte, im Bett lag und nicht mehr weiterleben wollte.
 
Nach diesem Vorfall beschloss die Familie, jede Ausreisemöglichkeit zu nutzen, auch wenn sich nur für einen von ihnen eine solche ergeben sollte. So kam es, dass Hedy am 18.Mai 1939, im Alter von 14 ½ Jahren, mit einem Kindertransport ihr Heimatland mit dem Ziel England verließ. Hedys Eltern ahnten vermutlich, dass sie ihre geliebte Tochter zum letzten Mal sahen. Ihr Bild, wie sie dem Zug tränenüber­strömt bis zum Ende des Bahnsteigs hinterherliefen, wie sie immer kleiner wurden, bis sie nur noch winzige Punkte waren, brannte sich in Hedys Gedächtnis ein. Sie hatte begriffen, wie sehr die beiden sie lieben mussten, dass sie sie gehen ließen, denn erst war es ihr so vorge­kom­men, dass die Eltern sie loshaben wollten und sie hatte ihnen Vorwürfe gemacht. Das plagte sie schrecklich, weil sie wusste, dass sie ihre Eltern vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben gesehen hatte und vermutlich war dieses Gefühl, zwar nicht im Streit auseinander gegangen zu sein, aber doch kurz vorher noch so über die beiden gedacht zu haben, das schrecklichste und herzzer­reißendste was man sich vorstellen kann. Und noch bevor der Zug Deutschland verließ, waren zwei Briefe fertig, in denen Hedy sich für die Vorwürfe entschuldigte und ihren Eltern mitteilte wie lieb sie sie hatte. 
 
In England wurde Hedy bei einer Familie Rose aufgenommen, die zwei Töchter ungefähr in Hedys Alter hatte, und eine etwas Ältere. Hedy fand sich dort jedoch nicht sehr gut zurecht, weshalb das Mädchen zu einer anderen Gastfamilie kam. Bis 1942 hegte sie einen regen Briefkontakt mit ihren Eltern, der jedoch immer unregelmäßiger wurde. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag wurde ihr mitgeteilt, sie dürfe nicht länger die Schule besuchen, sondern müsse sich jetzt einen Job suchen. Dies tat sie, wechselte aber, als es Komplikationen gab in ein Mädchen­heim, bis sie als angestellte Schneiderin im Kaufhaus „Harrods“ landete. Danach arbeitete Hedy bis zum Ende des Krieges in Fabriken, die Kriegsmaterial herstellten. Im November 1940 erhielt Hedy dann von ihren Eltern die Nachricht, sie wären ins KZ Gurs gebracht worden. Im September 1942 erreichte sie die letzte Nachricht ihres Vater, datiert auf den 9. August 1942, in der er schrieb, er käme in eine unbekannte Richtung von Gurs weg und es würde wohl lange dauern, bis sie wieder voneinander hören würden; im von Tränen verwischten Brief ihrer Mutter waren ähnliche Dinge zu lesen.
 
Und dann erreichte die allerletzte, traurigste Nachricht Hedy: Eine Postkarte von der zittrigen Hand ihrer Mutter geschrieben: „Meine liebe Hedy, auf der Fahrt nach dem Osten sendet dir von Montau­ban noch viele innige Abschiedsgrüße, deine liebe Mutti, 4. Sept. 1942“. Hedy hielt jahrelang daran fest, diese Nachricht positiv zu interpretieren. Sie las statt „auf der Fahrt nach dem Osten“ „in östli­cher Richtung“. Vielleicht war ihre Mutter ja auf dem Weg nach Hause nach Kippenheim, welches in östlicher Richtung lag. Sie glaubte noch lange an ein Wiedersehen mit ihren Eltern, bis sie in 1980 Auschwitz stand, dort, wo die Güterzüge in den 1940er ankamen. Dort verstand sie endlich, dort konnte sie es sich einge­stehen; ihre Eltern hatten nicht überlebt.
 
Für einige Zeit blieb Hedy noch in England, dann bewarb sie sich nach Deutschland bei der U.S. Civil Cen­sorship Division, wurde als Zensor angenommen und verließ England am 26. Juli 1945. Kurz bevor ihr Jahresvertrag bei dieser Stelle ablief, entschloss Hedy sich, noch eine Weile in Deutschland zu bleiben und bewarb sich bei der U.S. Regierung für die Nürnberger Prozesse und wurde als Forschungsanalytikerin angestellt. Das Verfahren, dem Hedy zugeteilt wurde, bezeichnete man später als den „Ärzteprozess“.1947 kehrte sie noch einmal nach Kippenheim zurück. Dann begann sie ein neues Leben.
 
Sie lebt heute in St. Louis in den USA und hat einen Sohn (Howard) und zwei Enkelkinder (Courtney und Kelly).
 

Bouchra Mossmann (12 Jahre)

Anselm, Elsa (geb. Öhler)

Elsa Anselm war meine Urgroßmutter, über die ich wenig wusste. Es war mir schon sehr früh bekannt, dass sie in Zeiten des Nazi-Regimes in ein Konzentrationslager gebracht worden war und dass sie über­lebte, aber zwischenzeitlich gestorben war. Der Grund für ihre Depor­tation war, dass sie einen anderen Glauben hatte, denn sie bekannte sich zu den Zeugen Jehovas.
 
Ihre Lebensgeschichte begann für mich mit einem Schuhkarton, den ich aus der Verwandtschaft bekommen hatte. Dieser enthielt einige amtliche Dokumente, ihren letzten Ausweis und die letzten Rechnungen aus ihrem Leben. Unten im Karton befanden sich auch Zeugnisse aus der NS-Zeit. Nun wusste ich, sie war am 5. Juni 1900 in Altenheim geboren und ihr letzter Wohnort war in Lahr, in Burgheim. Dort verstarb sie auch im Alter von 97 Jahren. Die Schriftstücke aus dem Dritten-Reich beinhalteten die „Verurteilung“ zu fünf Monaten Schutzhaft, wegen „Betätigung für die Ernsten Bibelforscher[1]“ und ein „Überstellungsbericht“ von der Schutzhaft in Mannheim in das Frauengefängnis Bruchsal. Des Weiteren befanden sich aus „neuerer“ Zeit eine Straftilgung für die „Verurteilung“ wegen ihrer Mitwirkung bei den Zeugen Jehovas, sowie ein Bescheid aus den Zeiten der Denazi­fizierung in dem Karton. Auf einem Kärtchen stand, sie sei eine „Entlastete“, das bedeutete, sie habe nachweislich das NS-Regime nicht unterstützt.
 
Die weitere Recherche führte mich zu Personen, die Elsa gekannt haben und in das Generallandes­archiv in Karlsruhe, wo ich Akteneinsicht bekam. Der Lebenslauf von Elsa füllte sich auch immer mehr mit weiteren Daten und Anekdoten aus ihrem Leben, die aus Berichten über ihre Erzählungen aus der Haft-Zeit stammten. Ihre Akte im Archiv umfasst 94 Seiten, der Großteil davon stammt aus dem Dritten Reich.

Elsa wurde 1900 in Altenheim als Elsa Öhler geboren, bis zu ihrer Heirat mit zwanzig Jahren arbeitete Sie als Dienstmädchen. Elsa nahm den Names ihres Mannes an, aber verließ ihn eigenmächtig und gebar danach ihre Tochter Martha. Elsa arbeite wieder in verschiedenen Stellungen, welche sie von Altenheim nach Kehl, Marlen und Pforzheim führten. In dieser Zeit hörte sie zum ersten Mal etwas von den Zeugen Jehovas und konvertierte zu diesem Glauben. Zwischen­zeitlich wurde die Ehe geschieden, „wegen böswilligen Verlassens“. Obwohl das Kind zuerst standardmäßig dem Mann zugesprochen wurde, bekam Elsa ihre Tochter von der Fürsorge zur Erziehung wieder.
 
Hitler und seine Anhänger kamen an die Macht. Die Reichtagsbrandverordnung 1933 wurde auch als Grundlage für ein Verbot der Zeugen Jehovas genutzt, was allerdings nichts an Elsas Glauben änderte. Nach der Ausbildung zur Parapackschwester in Pforzheim, übernahm sie die Parapack-Filiale in Lahr im Jahre 1936 und engagierte sich immer noch aktiv für die Zeugen Jehovas. In dem gleichen Jahr am 7. Dezember wurde sie verhaftet und in „Schutzhaft“ nach Mannheim gebracht. Der Grund war ihr Glaube zu den Zeugen Jehovas, wegen dem sie am 19. Februar 1937 zu 5 Monaten verurteilt worden ist. Nach ihrer Haftzeit in Bruchsal wurde sie ins KZ Möhringen gebracht, weil sie ihrem Glauben nicht abschwören wollte. Aus dieser Zeit gibt es noch die „offiziellen“ Verlegungspläne in das KZ –Lichten­burg im Dezember 1937 und die weitere Deportation im Mai 1938 ins KZ Ravensbrück. In einem der Briefe an ihre Tochter Martha, erzählt sie einmal, dass der Lager-„Arzt“ gemeint habe, die Sterbensrate sei zu niedrig, die Essensrationen müssen weiter minimiert werden.
 
Nach acht Jahren in Konzentrationslagern wurde auch Elsa 1945 befreit. Danach wurde sie mit ande­ren KZ-Insassen nach München gebracht, wo sie in „Kur“ kamen. Darauf kehrte sie zu ihrer zwischen­zeitlich verheirateten Tochter Martha in das Haus des Schwiegersohns und deren Eltern nach Hugs­weier zurück.
 
Aus ihrer Zeit in den Konzentrationslagern erzählte Elsa sehr wenig. Die Geschichten, die weitergetra­gen worden sind, berichten immer nur von dem wenigen Schönen. Zum Beispiel erzählte sie, dass sie 1943 an einen Hof verliehen worden ist, an welchem sie von dem Besitzer eine „Bibel“ der Zeugen Jehovas bekommen hätte, die er ihr im Sautrog gut eingepackt versteckt hätte.
 
Nach einem längeren Briefwechsel, der auch noch im Generallandesarchiv aufgehoben war, gab es 1951 eine Straftilgung. Nach einigen Jahren zog Elsa nach Lahr-Burgheim, wo sie weiterhin für die Zeugen Jehovas aktiv geblieben ist. Bis zu ihrem Tod am 21. Oktober 1993 lebte sie dort.

 
Heike Rinderspacher

[1]    Der Ausdruck „Ernste Bibelforscher “ wurde bis 1942 von den Nazis für die Zeugen Jehovas benutzt.

Caroli, Elfriede

Caroli ElfriedeAnfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts wurden im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Dokumente aus der NS-Zeit gefunden. Es handelte sich um ca. 30 000 Akten von Patientinnen und Patienten, die 1940/41 bei der ersten zentral organisierten Massenvernichtungsaktion (Aktion T4) im Nationalso­zialismus ermordet wurden. Darunter befand sich auch die dünne Krankenakte der Elfriede Caroli, deren Inhalt auf das Leben und das grausame Schicksal einer jungen Frau aufmerksam macht. T4 hieß die Aktion nach dem Sitz der zentralen Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Insgesamt wurden zwischen Januar 1940 und August 1941 ungefähr 70 000 Menschen im damaligen Reichsgebiet im Zuge der gemeinsam von der Kanzlei des Führers und  der Medizinalabteilung des Reichsinnen­ministeriums organisierten Vernichtungsaktion umgebracht.
 
Elfriede Caroli wurde am 17. Mai 1909 als vierte Tochter des Bandagisten Richard Caroli und seiner Ehefrau Karolina Rosa, geb. Schmidlin, in Lahr geboren. Elfriedes Vater war der jüngste der sieben Söhne des Gründers der Lahrer Bandagenfabrik Heinrich Caroli und, wie alle seine Brüder, in der Firma tätig. Über die Jugendzeit von Elfriede ist wenig bekannt. In der Krankenakte aus dem Bundesarchiv in Berlin ist vermerkt, dass sie in die Mädchenschule in Lahr gegangen ist, dort aber nicht gut gelernt hat. Noch lebende Familienangehörige der Fa­milie Schmidlin schildern Elfriede als fröhliches Mädchen, das gut Klavier spielen konnte. Die einzigen weiteren Informationen über Elfriede Caroli als Mädchen und als junge Frau sind in den kargen Aufzeichnungen enthal­ten, die bei ihrer Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Illenau (Achern) am 20. Januar 1931 entstanden sind.
 
Demnach war die junge Frau nach abgeschlossenem Schulbesuch zunächst zu Hause, hatte Musikstunden und besuchte die Arbeitsschule. Im November 1929 ging sie auf das Konservatorium in Karlsruhe, von wo sie aber an Pfingsten des Folgejahres plötzlich zurückkehrte. Wegen zunehmender Apathie verbrachte sie im Sommer 1930 drei Wochen in Wörrishofen. Vor der Aufnahme in die Heil- und Pflegeanstalt Illenau zeigte sie sich ihrer Familie in wechselnder Stimmung. Sie sprach öfters mit sich, starrte viel zum Fenster hinaus, war oft in Gedan­ken und wie abwesend, saß nachts aufrecht im Bett und starrte vor sich hin. Sie wurde auch zunehmend aggressiv.
 
Ungeachtet ihrer zierlichen Gestalt (sie war 1,65 m groß und wog 50 kg), war Elfriede körperlich gesund. Sie hatte sich normal entwickelt und war, von einigen Kinderkrankheiten abgesehen, nie ernsthaft krank gewesen. Ihre psychische Anlage wurde von der Anstalt wie folgt charakterisiert: „Stets gern für sich, sonst nichts Besonderes. Von jeher nervenschwach.“
 
In der „Illenau“ stumpfte Elfriede zunehmend ab. Sie arbeitete nicht, saß oder stand herum und wurde auch immer wieder gewalttätig. Sie sprach mit niemandem, auch nicht mit der Mutter und der Schwester, die immer wieder zu Besuch kamen. 1935 wurde sie aus „Platz­gründen nach Emmendingen verlegt“. Ihr Zustand ver­schlechterte sich weiter. Sie musste dauernd bewacht werden, stand unter Spannung und neigte zu Zerstör­ungs­sucht. 1938 und 1939 gibt es nur jeweils zwei Einträge, die einen unveränderten Zustand dokumentieren. Sie lag in der festen Jacke im Bett, lächelte vor sich hin und war nicht ansprechbar. 1940 enden die Einträge schlagartig. Am 12. August 1940 wird noch mit anderer Handschrift notiert: „Aus planwirtschaftlichen Gründen verlegt.“
 
Die sogenannte Verlegung am 12. August 1940 lief wie folgt ab: Nachdem vom badischen Innenministerium die Verlegungsanordnung in die Anstalt gekommen war, fuhren die drei Busse der „Gemeinnützigen Kranken Trans­port GmbH“ von Grafeneck aus zu der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen. Auf der Transportliste mit der Nummer II 898 steht Elfriede Caroli an fünfter Stelle. In einem Ordner der Pflegeanstalt fand sich der folgende Eintrag: „12. 8. 1940: Anforderung von 90 Frauen. 15 gestrichen, davon 5 gestorben, 5 zurückgestellt. 4 ‚Arb.‘ eine Begründung nicht leserlich, evtl. ‚med. Fall‘. 75 Patientinnen werden abgeholt, dabei auch eine jüdische Patientin.“
 
Nach der Ankunft in Grafeneck überprüfte man zunächst die Personalien. Die Kranken wurden in einem Raum ausgekleidet und dann den Ärzten zur letzten Untersuchung vorgeführt. Anschließend wurde Elfriede in einen Aufenthaltsraum geführt, von wo sie in die Baracke zur Vergasung geführt werden sollte. Mit allen anderen ging sie durch ein Tor im Bretterzaun, vorbei am Krematorium, zum Tötungsgebäude. Die Gruppe wurde beim Betreten des Vergasungsraumes nochmals gezählt, dann gingen die Tore zu. Kohlenmonoxid-Gas strömte herein, das der Anstaltsarzt Dr. Baumhardt durch Betätigung eines Manometers in Gang setzte. Nach zwanzig Minuten wurde die Gaszufuhr gestoppt, da sich im Vergasungsraum nichts mehr bewegte. Das Krematoriums­personal transportierte nach einiger Zeit die Toten, darunter Elfriede, zum Verbrennungsort.
 
Die Eltern erhielten einen sogenannten Trostbrief zusammen mit dem persönlichen Eigentum der Verstorbenen. In den meisten Fällen, wie auch bei Elfriede Caroli, wurde das Todesdatum gefälscht, weil eine Häufung von Todesfällen am gleichen Tag Verdacht erregt hätte. Im Melderegister Lahrs ist so bis heute der 22. August 1940 als Todestag verzeichnet. An diesem Tag war Elfriede bereits zehn Tage tot. Sie wurde 31 Jahre alt.
 

Dr. Walter Caroli
Lahr

Das Schicksal von Elfriede Caroli ist beschrieben in: Walter und Heinrich Caroli: Lieb undt leid theilen: die Carolis in fünf Jahrhunderten; ein Beitrag zur Lahrer Stadtgeschichte, Lahr 2008

Auerbacher, Inge

Inge Auerbacher, Foto: PrivatbesitzInge wurde am 31. Dezember 1934 in Kippenheim geboren und war das einzige Kind von Berthold und Regina Auer­bacher, einem gläubigen jüdischem Ehepaar, deren Familie bereits seit vielen Generationen in Deutschland lebte. Inges Vater war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und hatte das Eiserne Kreuz verliehen bekommen.

Zur Zeit der Kristallnacht war Inge erst drei Jahre alt, aber ihre Erinnerungen daran sind immer noch sehr lebendig. Am 10. November 1938 wird ihr Großvater nach dem Mor­gengebet in der Synagoge verhaftet. Gemeinsam mit ihrem Vater wird er ins Konzentrationslager nach Dachau verbracht und einige Wochen später wieder entlassen. In dieser Nacht jedoch, wurden alle Fenster des Hauses zer­stört und die Synagoge stark beschädigt. Inges Familie ver­kaufte ihr Haus und zog 1939 zu den Großeltern nach Jebenhausen bei Göppingen.

Wie fast alle württembergische Kinder musste die Sechsjährige die jüdische Schule in Stuttgart besuchen und jeden Tag eine einstündige Zugfahrt auf sich nehmen. Nach einem halben Jahr, mit Beginn der Deportationen wurde die Schule aufgelöst. Inge und ihre Eltern wurden 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie war mit ihren sieben Jahren die Jüngste der über 1200 Gefangenen und ihr Leben glich einem Albtraum. Tod, Hunger und Angst waren ihre ständigen Begleiter. Sie erzählt davon in ihrer Biographie „Ich bin ein Stern“.

Am 8. Mai 1945 kam die Befreiung durch die russische Armee. Inge gehörte zu dem einen Prozent der überlebenden Kinder des Lagers. Auch ihre Eltern hatten überlebt. Die Familie kehrte nach Jebenhausen zurück und erfuhr vom Tod der meisten Verwandten ihrer großen Familie.

Im Mai 1946 emigrierten die Auerbachers nach New York. Die Jahre der Unterernährung hatten Inges Gesundheit nachhaltig geschadet und sie musste zwei Jahre im Krankenhaus verbringen.

Noch heute lebt sie in New York und arbeitete dort 38 Jahre lang als Chemikerin. Inzwischen hat sie vier Bücher geschrieben. Auch hält sie viele Vorträge an Schulen gegen das Vergessen. Für ihre Arbeit erhielt sie inzwischen viele Preise, wie z.B. die Ellis Island Medal of Honour (1999), auch den Ehrendoktortitel und sie war unter den ersten, die in die New York City Hall of Fame gekommen sind. Der Deutsch-Israelische Arbeitskreis lobte den Inge-Auer­bacher-Preis aus, der an Studenten und Institutionen vergeben wird, die sich für Toleranz und Menschenrechte einsetzen.

 

Evelyn Wegmann
von der Grund- und Hauptschule Kippenheim

Vieser, Katharina

Katharina Vieser, Stolperstein KippenheimSie kommt als zehntes von elf Kindern zur Welt und wächst in der Stefanienstrasse 7 im landwirtschaftlichen Anwesen auf. Von 1904 bis 1912 besucht sie die Friedrichschule und gilt als fröhliches Kind und fleißige Schülerin.
 
1923 heiratet sie den aus Mietersheim stammenden Holzbildhauer Herrmann K. und bringt genau zwei Jahre später ihren ersten Sohn zur Welt. Vermutlich erlitt sie durch die schwere Geburt und den Tod des Vaters drei Monate zuvor eine Schwan­gerschaftsdepression. Eine erste „fürsorgliche“ Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung erfolgt für ein halbes Jahr im Mai 1925.
 
Nach der Geburt ihres zweiten Sohnes 1929 erfolgt im September 1931 wiederum ein Aufenthalt in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen, wo sie im April 1932 für drei Monate nach Hause entlassen wird, bevor sie insgesamt für die Dauer von acht Jahren ihren längsten und letzten Psychiatrie-Aufenthalt antritt. Versuche, die Anstalt wieder zu verlassen, bleiben ohne Erfolg. Die Scheidung der Ehe erfolgt im Juli 1934.
 
Von Ärzten mit der Diagnose „endogene Schizophrenie“ etikettiert, gerät sie in die Todesmaschinerie der Nationalsozialisten.  Sie fällt unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ und wird 1939 im Rahmen der Meldebogenaktion T 4[1] erfasst und schließlich am 26. November 1940 „aus planwirtschaftlichen Gründen“[2] nach Grafeneck verlegt. In diese erste Vernichtungsanstalt auf deutschem Boden, in der industriell gemordet wurde, fanden von Januar bis Dezember 1940 insgesamt 10.654 Frauen, Männer und Kinder durch Giftgas den Tod, 927 allein von ihnen aus Emmendingen.
 
Der Ermordung von Katharina Vieser geht eine ein- bis zweiminütige Untersuchung voraus, die keinem Erkenntnisinteresse mehr dient. Sie stirbt entrechtet, gedemütigt, entwürdigt in der Gaskammer von Grafeneck. Ihr Tod hat nichts vom sanften Hinübergleiten, wie er später verharmlosend, zynisch-heuchlerisch den Angehörigen mitgeteilt wird, sondern es handelt sich um einen Akt grausamster Barbarei.
 

Gardy-Käthe Ruder (Enkelin von Katharina Vieser)
Stolpersteinprojekt Kippenheim, 2006
 
[1] Die Zentrale zur Erfassung, Durchführung und Ermordung psychisch Kranker und geistig Behinderter befand sich in der
   Berliner Tiergartenstr..4.
[2] Abschließende Bemerkung in der Krankenakte, Bundesarchiv Berlin R 179, Nr. 17260