Alice Dreifuss wurde am 3. April 1910 in Altdorf geboren. Sie war Tochter des koscheren Metzgers Leopold Dreifuss und seiner Frau Léonie, die aus dem Elsass stammte. Alice hatte einen Bruder, Siegfried, der später in Straßburg arbeitete. Einige erhaltene Photos, die Alice im Kreise ihrer Freundinnen und in einem Faschingskostüm zeigen, lassen vermuten, dass sie eine fröhliche Kindheit hatte. Alice lebte noch zu Hause, als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht übernahmen. Sie musste am 10. November 1938, dem Pogromtag, miterleben, wie ihr Vater mit den anderen jüdischen Männern Altdorfs abgeholt und für einige Wochen in das Konzentrationslager Dachau verbracht wurde.
Nach seiner Freilassung aus Dachau beschloss die Familie, nach Frankreich zu fliehen, doch nur die Mutter durfte einreisen, da sie geborene Elsässerin war. Es gibt in der Familie eine Überlieferung, dass die Einreise von Alice auch daran gescheitern sein könnte, dass sie sich in früheren Jahren bei einem Aufenthalt in Frankreich als deutsche Patriotin geäußert haben soll. Alice und ihr Vater Leopold erhofften sich nun Schutz durch eine Niederlassung in Berlin, dessen jüdischer Gemeinde 1939 noch etwa 80.000 Menschen angehörten. Sie fanden eine Unterkunft in Berlin-Mitte, unweit der Neuen Synagoge und wohnten zur Untermiete bei der Berliner jüdischen Familie Fischel. Per Briefverkehr hielten Vater und Tochter Kontakt mit der Mutter Léonie und dem Sohn Siegfried. Alice schrieb: „Das Heimweh nach der guten alten Zeit Altdorfer könnt Ihr sicher nachfühlen u. wollen wir zum lieben Gott hoffen, dass er uns noch mal ein ähnliches Dasein in Gesundheit und Frieden erleben lässt. Amen.“
Leopold und Alice wurden aus dem Vermögen einer Verwandten unterstützt, das jedoch durch das Finanzamt in Berlin Moabit eingezogen wurde, als diese auswanderte. Alice musste zu diesem Zeitpunkt bereits Zwangsarbeit bei den Berliner Siemenswerke leisten. Schichtarbeit prägte ihren Tagesablauf, der oft schon morgens um vier Uhr begann. Nach Einschaltung eines Rechtsvertreters gelang es, wenigstens für Leopold die regelmäßige Unterstützung aus dem beschlagnahmten Vermögen erhalten.
Leopold wurde im Juli 1942 in das deutsche Ghetto-Lager Theresienstadt verschleppt. Alice gehörte zu den Zehntausenden jüdischer Zwangsarbeiter, die zunächst weiter in der Industrie und Rüstungsproduktion eingesetzt wurden. Noch vor der systematischen Verhaftungswelle gegen diese Menschen, die im Februar 1943 begann, erhielt Alice die Aufforderung, sich zum Abtransport bereit zu halten. Mit mindestens 1.000, möglicherweise jedoch 1.200 Juden und Jüdinnen aus Berlin bestieg sie am 12. Januar 1943 einen Deportationszug, der nach Auschwitz abging. Nur 127 männliche Verschleppte dieses Transportes erhielten nach den Lagerver-zeich¬nissen eine Tätowierungsnummer. Alle anderen wurden unmittelbar nach Ankunft in den Gaskammern ermordet. Unter ihnen befand auch Alice Dreifuß.
Dr. Uli Baumann
Berlin