Ebstein, Hedy (geb. Wachenheimer)

Hedy EbsteinHedy Epstein wurde als Hedwig Wachenheimer, Kind jüdischer Eltern, am 15.8.1924 in Freiburg i. Br. Geboren, wuchs jedoch in Kippenheim auf. Ihre Eltern Hugo und Ella Wachenheimer besaßen ein Manufaktur­warengeschäft nicht weit vom Wohnhaus entfernt. Hedys Vater hatte im ersten Weltkrieg der deutschen Armee gedient und war nun Träger eines Ordens. Seine Familie lebte schon seit mehreren Generationen in Kippenheim. Ebenfalls lebte dort Hedys Onkel mit seiner Frau. Die Familie von Hedys Mutter hingegen lebte in Hanau, nahe Frankfurt/Main.
 
Bis sie zur Schule kam, wusste Hedy nicht, dass sie jüdisch war. Sie begleitete ihre Eltern an Jom Kippur und Rosch Haschana in die Synago­ge, besuchte jedoch zusammen mit dem katholischen Hausmädchen Paula auch christliche Gottesdienste, die sie viel schöner fand. Für Hedy hatten diese Besuche nichts mit Religionszugehörigkeit zu tun, sondern waren einfach nur Begegnungen mit zwei verschiedenen Orten der reli­giösen Andacht. Dass sie Jüdin war, spielte erst eine Rolle, als sie in die Kippenheimer Volksschule kam. Ihre Eltern besaßen keine zionistischen Neigungen und galten deshalb, und weil sie sich größtenteils nicht an die jüdischen Bräuche hielten, als Außenseiter in der jüdischen Gemeinde.
 
Als 1933 Hitler an die Macht kam, war Hedy acht Jahre alt. Ihre Eltern versuchten alles, um eine gemein­same Flucht aus Deutschland zu organisieren. Einmal sah es wirklich gut aus; als Hedys Vater einen entfern­ten Verwandten von sich in Chicago ausfindig machte. Dieser erklärte sich jedoch nicht bereit, für die Familie zu bürgen und so war auch diese letzte Möglichkeit auszureisen, zerfallen. Im Frühjahr 1935 wurde Hedy auf dem Realgymnasium in Ettenheim angemeldet. Zuerst wollte der Schulleiter sie nicht aufnehmen, weil sie Jüdin war, als dann aber ihr Vater stumm auf den Orden wies, den er immer stolz trug, beteuerte der Schul­leiter sofort, dass Hedy natürlich aufgenommen sei, er hätte das ja nicht gewusst. Außer Hedy besuchten auch noch fünf andere jüdische Kinder das Realgymnasium, drei davon waren in Hedys Klasse. Die Zahl verringerte sich jedoch von Jahr zu Jahr und so blieb Hedy im Schuljahr 1937/38 als einzige Jüdin in ihrer Klasse übrig. Sie war ziemlich isoliert, und in den Pausen, die für sie zur schrecklichsten Tageszeit wurden, beschimpften die anderen Kinder sie als „Dreckjude“, schlossen sie von den Spielen aus und wechselten kein Wort mehr mit ihr. Doch nicht nur die Schüler machten Hedy das Leben zur Hölle, nein, ganz besonders auch ein Lehrer, Hedys Mathelehrer, stets in SS-Uniform. Er bedrohte Hedy mit dem Revolver, machte sie vor der Klasse lächerlich, und sorgte so dafür, dass Hedy für viele lange Jahre keine noch so leichte Rechenaufgabe mehr lösen konnte und später nur mühselig und mit einigen Problemen einfachere Aufgaben wie z.B. Prozentrechnungen bewältigte, weil diese schrecklichen Erinnerungen sie immer wieder heimsuchten.
 
Am Morgen des 10. November 1938, dem Morgen nach der Pogromnacht, Hedy war auf dem Weg zur Schule, sah sie, dass die Fenster des Hauses und der Praxis des jüdischen Zahnarztes zerbrochen waren. Sie wusste noch nichts von den Geschehnissen in der Nacht, begriff jedoch sofort, dass die Verwüstungen damit zusammenhingen, dass der Zahnarzt Jude war. Hedy setzte ihren Schulweg wie gewöhnlich fort und auch der Unterricht begann pünktlich um acht Uhr. Aber um etwa halb neun betrat der Direktor das Klassen­zimmer und sprach zu den Schülern. Plötzlich zeigte er mit seinem Finger auf Hedy und schrie: „Raus mit dir, du Dreckjude!“ Hedy traute ihren Ohren nicht, sie hatte ihren Schulleiter immer als einen anständigen und freundlichen Mann erlebt. Also bat sie ihn, das Gesagte zu wiederholen. Er tat es und bugsierte Hedy unsanft aus dem Unterrichtsraum. So fand sie sich im Gang wieder und fragte sich, was sie getan hatte. War sie etwa eingeschlafen? Hatte sie einmal nicht aufgepasst? Was sollte sie ihren Eltern sagen?  Bald darauf eilten ihre Klassenkameraden und die anderen Schüler durch den Gang und verschwanden. Wohin? Hedy hatte keine Ahnung. Sie setzte sich wieder an ihren Platz und versuchte zu lernen. Da kam Hans, ein etwas jüngerer, jüdischer Schüler, der ebenfalls aus Kippenheim stammte. Hedy ließ sich nicht stören und lernte weiter; Hans sah aus dem Fenster. Nach etwa eineinhalb Stunden rief er Hedy aufgeregt zu sich. Gemeinsam beobach­teten die beiden, wie eine Gruppe Juden, von SS-Männern, die sie mit Peitschen schlugen, bewacht, die Straße heruntergetrieben wurde. Beunruhigt beschlossen die Kinder daheim anzurufen und um Rat zu fragen, doch bei welchem ihrer Verwandten sie auch anriefen, immer erhielten sie die gleiche erschreckende Antwort: „Der Anschluss ist nicht mehr in Betrieb.“ So fuhren Hedy und Hans ängstlich nach Hause.
 
Als Hedy ihr Wohnhaus erreichte, musste sie feststellen, dass es verriegelt war. Wie von Sinnen lief sie zum Hause ihrer Tante Käthe Wachenheimer. Dort öffneten ihre Mutter und ihre Tante die Tür. Wie das Mädchen danach erfuhr, waren ihr Vater, ihr Onkel und andere Juden aus Kippenheim, kurz nachdem sie sich auf den Schulweg gemacht hatte, abtransportiert worden, Schutzhaft nannten die Nazis das. Zuerst waren die Männer aufs Rathaus gebracht worden, von wo aus man sie nun, wie am Morgen in Ettenheim, die Straße heruntertrieb. Hedy sah ihren Vater, ihren Onkel und viele andere bekannte Gesichter. Wohin wurden sie gebracht? Wann würden sie wieder zu Hause sein? Viele Fragen, auf die man keine Antwort hatte. Zwei Wochen später erreichte eine vorge­druckte Postkarte von Hedys Vater die Familie. Hugo Wachenheimer war im KZ Dachau. Mit allen Mitteln versuchte Hedys Mutter bei der Gestapo etwas für die Beschleunigung der Rückkehr ihres Mannes und der anderen zu bewirken, bis man ihr endlich mitteilte, wenn er bis zum Freitag der Woche nicht zurück sei, wäre er tot. An genau diesem Freitag, vier Wochen nach der Verhaftung, kam Hedys Vater mit den letzten Kippenheimern zurück; als Ella Wachenheimer die Hoffnung ihren Mann jemals wieder- zusehen schon aufgegeben hatte, im Bett lag und nicht mehr weiterleben wollte.
 
Nach diesem Vorfall beschloss die Familie, jede Ausreisemöglichkeit zu nutzen, auch wenn sich nur für einen von ihnen eine solche ergeben sollte. So kam es, dass Hedy am 18.Mai 1939, im Alter von 14 ½ Jahren, mit einem Kindertransport ihr Heimatland mit dem Ziel England verließ. Hedys Eltern ahnten vermutlich, dass sie ihre geliebte Tochter zum letzten Mal sahen. Ihr Bild, wie sie dem Zug tränenüber­strömt bis zum Ende des Bahnsteigs hinterherliefen, wie sie immer kleiner wurden, bis sie nur noch winzige Punkte waren, brannte sich in Hedys Gedächtnis ein. Sie hatte begriffen, wie sehr die beiden sie lieben mussten, dass sie sie gehen ließen, denn erst war es ihr so vorge­kom­men, dass die Eltern sie loshaben wollten und sie hatte ihnen Vorwürfe gemacht. Das plagte sie schrecklich, weil sie wusste, dass sie ihre Eltern vielleicht zum letzten Mal in ihrem Leben gesehen hatte und vermutlich war dieses Gefühl, zwar nicht im Streit auseinander gegangen zu sein, aber doch kurz vorher noch so über die beiden gedacht zu haben, das schrecklichste und herzzer­reißendste was man sich vorstellen kann. Und noch bevor der Zug Deutschland verließ, waren zwei Briefe fertig, in denen Hedy sich für die Vorwürfe entschuldigte und ihren Eltern mitteilte wie lieb sie sie hatte. 
 
In England wurde Hedy bei einer Familie Rose aufgenommen, die zwei Töchter ungefähr in Hedys Alter hatte, und eine etwas Ältere. Hedy fand sich dort jedoch nicht sehr gut zurecht, weshalb das Mädchen zu einer anderen Gastfamilie kam. Bis 1942 hegte sie einen regen Briefkontakt mit ihren Eltern, der jedoch immer unregelmäßiger wurde. Kurz vor ihrem 16. Geburtstag wurde ihr mitgeteilt, sie dürfe nicht länger die Schule besuchen, sondern müsse sich jetzt einen Job suchen. Dies tat sie, wechselte aber, als es Komplikationen gab in ein Mädchen­heim, bis sie als angestellte Schneiderin im Kaufhaus „Harrods“ landete. Danach arbeitete Hedy bis zum Ende des Krieges in Fabriken, die Kriegsmaterial herstellten. Im November 1940 erhielt Hedy dann von ihren Eltern die Nachricht, sie wären ins KZ Gurs gebracht worden. Im September 1942 erreichte sie die letzte Nachricht ihres Vater, datiert auf den 9. August 1942, in der er schrieb, er käme in eine unbekannte Richtung von Gurs weg und es würde wohl lange dauern, bis sie wieder voneinander hören würden; im von Tränen verwischten Brief ihrer Mutter waren ähnliche Dinge zu lesen.
 
Und dann erreichte die allerletzte, traurigste Nachricht Hedy: Eine Postkarte von der zittrigen Hand ihrer Mutter geschrieben: „Meine liebe Hedy, auf der Fahrt nach dem Osten sendet dir von Montau­ban noch viele innige Abschiedsgrüße, deine liebe Mutti, 4. Sept. 1942“. Hedy hielt jahrelang daran fest, diese Nachricht positiv zu interpretieren. Sie las statt „auf der Fahrt nach dem Osten“ „in östli­cher Richtung“. Vielleicht war ihre Mutter ja auf dem Weg nach Hause nach Kippenheim, welches in östlicher Richtung lag. Sie glaubte noch lange an ein Wiedersehen mit ihren Eltern, bis sie in 1980 Auschwitz stand, dort, wo die Güterzüge in den 1940er ankamen. Dort verstand sie endlich, dort konnte sie es sich einge­stehen; ihre Eltern hatten nicht überlebt.
 
Für einige Zeit blieb Hedy noch in England, dann bewarb sie sich nach Deutschland bei der U.S. Civil Cen­sorship Division, wurde als Zensor angenommen und verließ England am 26. Juli 1945. Kurz bevor ihr Jahresvertrag bei dieser Stelle ablief, entschloss Hedy sich, noch eine Weile in Deutschland zu bleiben und bewarb sich bei der U.S. Regierung für die Nürnberger Prozesse und wurde als Forschungsanalytikerin angestellt. Das Verfahren, dem Hedy zugeteilt wurde, bezeichnete man später als den „Ärzteprozess“.1947 kehrte sie noch einmal nach Kippenheim zurück. Dann begann sie ein neues Leben.
 
Sie lebt heute in St. Louis in den USA und hat einen Sohn (Howard) und zwei Enkelkinder (Courtney und Kelly).
 

Bouchra Mossmann (12 Jahre)

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