Wegen ihrer Epilepsie lebte Lydia Pfeifer aus Haßmersheim bei ihren Eltern. Als der Vater, ein Hauptschullehrer im Ruhestand, ins Altenheim ging wurde ihr Schwager Ernst Gilbert, Pfarrer in Steinen bei Lörrach, als Vormund eingesetzt. Der Vater verstarb am 4. März 1938. Lydia Pfeifer lebte seit 1. Februar 1938 (abweichende Angabe 1. April 1937) in Kork. Die Familie stand mit ihr in regelmäßigem Briefkontakt. Die Briefe gaben nach Aussagen des Schwagers immer den Eindruck einer gesunden Persönlichkeit. Bücher und ein Harmonium in ihrem Nachlass lassen auf musische Interessen und Aktivitäten schließen. In der Einrichtung war sie wohl beliebt, so der Schwager.
Vom letzen Besuch in Kork am 25. August 1939 berichtet ihr Schwager: Wir konnten uns damals mit ihr gut unterhalten und sie machte den Eindruck eines gesunden Menschen. Ihr Krankheitszustand wurde erst bei einem Anfall deutlich. Diese Anfälle bekam sie meines Wissens nur etwa alle 4 Wochen. Sie war zeitlich und örtlich orientiert und vollständig arbeitsfähig, wenn sie die Anfälle nicht hatte. Die Eintragungen in den Meldebogen zur Erfassung von Anstaltsinsassen lauten im Herbst 1939: „Genuine Epilepsie mit erheblicher Wesensänderung und Demenz“ bezüglich der Arbeitsfähigkeit weist die Durchschrift „leichte mechanische Haus- und Handarbeiten“ aus.
Mit der Evakuierung der gesamten Bevölkerung entlang des Rheins nach Kriegsbeginn wurden auch Lydia Pfeifer sowie alle BewohnerInnen und Mitarbeitende in der Anstalt Stetten behelfsmäßig untergebracht. Von hier wurde sie am 28. Mai 1940 nach Grafeneck deportiert. In der Zeit zuvor sei es ihr „ordentlich gegangen“. Der Schwager und seine Frau Martha Gilbert werden am 1. Juni 1940 von Direktor Stolz aus Stetten, darüber informiert, dass Lydia Pfeifer mit unbekanntem Ziel verlegt worden sei. Am 7. Juni1940 empfangen sie diesen Brief. Ernst Gilbert bittet in seinem direkten Antwortbrief um Mitteilung „welcher Erass des Ministeriums die Verlegung von Lydia Pfeifer nötig machte. Dass Ihnen die Anstalt unbekannt ist, wohin Lydia verlegt worden ist, ist mir unbegreiflich. … Diese Nachricht wirkt so sonderbar, dass meine liebe Frau als Schwester der Lydia Pfeifer erschrak über diese Nachricht“. Die Schwester schreibt am gleichen Tag an den Evang. Oberkirchenrat. Über den Inhalt des Schreibens bin ich begreiflicherweise recht empört über eine derartige Handlungsweise. Bis heute weiß ich noch nicht, welches der neue Aufenthaltsort meiner Schwester ist. Ich werde mich persönlich an das Ministerium wenden. Hat das Ministerium das Recht, Kranke ohne das Wissen der Angehörigen, die doch bezahlen, an einem anderen Ort unterzubringen? Wohin kam Lydia von Ihnen aus? Man muss doch einen Ort angegeben haben? Wurden noch mehr Kranke auf diese Weise aus der Anstalt entfernt? … Gilbert, in einem Brief an Direktor Stolz, der ihn über die Verlegung mit unbekanntem Ziel informiertet: „Wenn die Aufnahmeanstalt Ihnen unbekannt bleiben muss, darf ich wissen, dass Sie Weisung haben, es nicht wissen zu dürfen, obwohl Sie die Aufnahmeanstalt doch wissen.“ Das Ehepaar ist intensiv um Aufklärung bemüht und schreibt nach Kork, an den Oberkirchenrat, an das Ministerium ja sogar nach Grafeneck. Die darin gestellten Fragen sind offen und direkt.
Die Todesnachricht aus der Landespflegeanstalt Grafeneck erreichte Familie Gilbert am 18. Juni 1940: Der Tod sei am 15. Juni 1940 infolge „Atemhemmung im epileptischen Anfall“ eingetreten. Kommentiert wurde diese Todesursache durch den Schwager mit den Worten „Atemnot hatte doch Lydia nie gehabt“. An Direktor Stolz, der in Stetten die Belange Korks wahrnahm, schrieb Martha Gilbert noch am selben Tag: Ich bin ganz geschlagen und getroffen. (..) Mir tut es leid, dass ich ihr diese ganzen drei Wochen auch nicht das kleinste Zeichen der Liebe und des Gedenkens zukommen lassen konnte. Gilbert äußerte er sich auf einer Postkarte an den Anstaltsleiter, dass seine „an das Ministerium, an den Oberkirchenrat und nach Grafeneck gerichtete Anfrage noch keine befriedigende Antwort erhalten habe“. Die Intervention Pfarrer Gilberts im Juni 1940 führte auch zu einem Protestschreiben des Evangelischen Oberkirchenrats an das badische Innenministerium am 19. Juni 1940. Darin richtete sich der Protest jedoch nicht gegen die Krankenmorde sondern lediglich gegen die Verlegungspraxis.
In einem Schreiben an die Anstalt Grafeneck forderte Martha Gilbert Auskünfte über das Schicksal ihrer Schwester und fragte direkt nach „Was hat man an diesen armen Menschen vorgenommen?“. Die Reaktion vom 28. Juni 1940 aus Grafeneck: „Falls Sie mir binnen acht Tagen darüber keine Aufklärung zugehen lassen und diese Verdächtigungen mit dem Ausdruck des Bedauerns zurücknehmen, sehe ich mich gezwungen, Ihr Schreiben der Geheimen Staatspolizei zu übergeben, die dann vielleicht auch über Sie die böswilligen Verdächtigungen, die von der Anstalt Kork gegen uns ausgehen, aufdecken kann.“ Lydia Pfeifer wurde beim ersten Transport am 28. Mai 1940 mit insgesamt 70 Frauen und Mädchen nach Grafeneck deportiert. Das Auswahlkriterium für die Ermordung: weiblich.
In Würdigung der bemerkenswerten Offenheit, des entschlossenen Bemühens um Aufklärung sowie des Widerstands benannte die Diakonie Kork einen Weg und ein Wohnhaus nach Lydia Pfeifer.
Klaus Freudenberger
Kork