Meyer, Walter Max

Walter Max Meyer wurde am 7. September 1915 in Groß Steinheim (Hessen) als Sohn von Marie und August Meyer geboren. Er wuchs mit seiner älteren Schwester Ruth auf, welche am 22. März 1913 auf die Welt kam. Im Laufe seiner Kindheit zog die vierköpfige Familie nach Ettenheim und später, als Walter Max Meyer fünf Jahre alt war, nach Offenburg, wo sie wiederum öfters ihren Wohnsitz wechselten.

Walter Max Meyer besuchte bis zu seinem „Einjährigen“ (Abschluss des zehnten Schuljahrs) die Oberrealschule in Offenburg, das heutige Schiller-Gymnasium. Er wollte anschließend Medizin studieren, was ihm aber verwehrt wurde, da die Nationalsozialisten Juden das Studieren verboten hatten. Deshalb absolvierte er von 1933 – 1934 eine Lehre bei der „Adolf Spinner GmbH Kolonialwaren en Gros“ in Offenburg (heute befindet sich in dem Gebäude unter anderem das Geschäft Butlers). Anschließend ging er nach München, um eine Stellung als reisender Kaufmann für die jüdische Firma Glasgesellschaft GmbH wahrzunehmen. Seinen Arbeitsplatz musste Walter Max Meyer aber drei Jahre später aufgeben, da man in Deutschland keine Produkte mehr von jüdischen Unternehmen kaufen durfte. Daraufhin kehrte er nach Offenburg zurück, von wo aus er im Mai 1938 mit seiner Familie nach Heidelberg übersiedelte. Für Walter Max Meyer war es unmöglich, in Deutschland noch eine Arbeitsstelle zu bekommen; er durfte als Jude keinen Job mehr annehmen.

Am 10. November 1938, dem Tag nach der Reichspogromnacht, wurde er mit ca. 150 anderen Männern aus Heidelberg nach Dachau abtransportiert, von wo er wahrscheinlich Mitte Dezember freigelassen wurde. Walter Max Meyer kehrte zurück nach Heidelberg und blieb dort bis April 1939. Am 12.04.1939 reiste er von Heidelberg per Bahn in den Osten Deutschlands und gelangte dann mit einem Schiff nach Dover in Südengland. Mit der Bahn fuhr er nach Sandwich, wo er längere Zeit ohne Bezahlung in einem Internierungslager, dem Kitchener Camp, arbeitete, um es bewohnbar zu machen. Dieses Camp war eine Zwischenstation für Personen (überwiegend Juden), die darauf warteten, in ein anderes Land auswandern zu dürfen. Im Dezember desselben Jahres reiste Walter von Southampton per Holland-Amerika-Linie mit dem Schiff S.S Volendam, welches zu dieser Zeit als Transportschiff eingesetzt wurde, in die USA. Da Walter Max Meyer seine Ausbildung nicht abschließen konnte, musste er sich mit diversen Tätigkeiten, wie zum Beispiel Nachtwächter in einer Whiskeydestillerie, „über Wasser“ halten. Von 1941 – 1945 diente er der US-Army. Der Versuch, sich selbstständig zu machen, scheiterte, und somit nahm er eine Stelle als Reisender für die Firma Frozen Foods war. Diese Arbeit brachte ihm aber nicht viel Geld ein, weshalb Walter Max mit seiner Frau Irmgard, die er am 3. März 1951 heiratete, und ihren zwei Kindern in einer Wohnung für Menschen mit geringem Einkommen in New Milford (Bundesstaat New York) lebte. Trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten unterstützten seine Schwester Ruth und er ihre Mutter Marie Meyer, die ebenfalls in die USA geflüchtet war. Es wird angenommen, dass Walter Max Meyer bereits verstorben ist, jedoch sind mir seine Todesdaten nicht bekannt.

 
Nadine Walter
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2010/11

Hammel, Mina (geb. Machol)

Mina Hammel wurde am 20.01.1898 als drittes Kind jüdischer Eltern in Ettlingen geboren. Ihr Vater Sigmund Machol (geboren am 05.10.1863) war mit Settchen Machol (geboren am 28.04.1864 in Hildesheim in Hessen) verheiratet. Mina hatte drei weitere Geschwister, einen älteren Bruder Isidor (geboren am 14.03.1895), eine ältere Schwester Johanna (geboren am 09.09.1896) und eine jüngeren Bruder Julius (geboren am 15.12.1899). Sigmund Machol war von Beruf Metzgermeister und Viehhändler.

In Minas Kindheit lebte eine christliche Familie im Haus ihrer Eltern. Die Familien hatten ein sehr gutes Verhältnis zueinander, die Kinder spielten zusammen im Garten der Familie Machol und Settchen Machol tröstete die christliche Mutter, als deren Mann während des ersten Weltkriegs nicht nach Hause kam. Mina wuchs in einer offenen, freundlichen Familie auf.

Am 15.11.1925 heiratete Mina den am 18.11.1892 in Offenburg geborenen Viehhändler Paul Hammel. Im Dezember 1925 zogen sie in Offenburg in die Hauptstraße 42 und vier Monate später in die Sofienstraße 30.
Am 28.03.1928 bekam das Ehepaar ihren ersten Sohn Kurt. Am 03.03.1931 kam der zweite Sohn Rudolf zur Welt. Mina Hammel war Hausfrau und Mutter.

1933 kam die NSDAP an die Macht, erließ zahlreiche antijüdische Verordnungen und führte verschiedene Aktionen durch, die es jüdischen Bürgern erschwerte, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Auch Familie Hammel musste finanzielle Einbußen hinnehmen. Im März 1934 zog die Familie in die Zellerstraße 21.

Am 22.10.1940 wurde die Familie bei der großen Deportation aller Juden aus Baden und der Saarpfalz ins südfranzösische Gurs am Fuße der Pyrenäen deportiert. Kurt und Rudolf  wurden über Rivesaltes in ein Kinderheim in Creuse und 1942 illegal in die Schweiz gebracht.  1945 konnten sie nach Amerika auswandern, wo sie später auch Familien gründeten.
Mina und Paul waren bis zum 01.08.1942 in Rivesaltes und wurden zehn Tage später über Drancy nach Ausschwitz deportiert.
Am 31.12.1945 wurden sie und ihr Mann dort für tot erklärt. Wann sie genau ermordet wurden ist nicht bekannt.

Als Wiedergutmachung erhielten Kurt und Rudolf für die 22-monatige Freiheitsentziehung ihrer Mutter 3.300 DM. Außerdem bekamen sie von geforderten 72500 RM unter anderem für Geschäftsvermögen und Schmuck 2282 DM ausbezahlt.

Mareike Faiß
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2010/11

Moch, Sara (geb. Dreyfusz)

Foto: Staatsarchiv FreiburgDie spätere Offenburgerin wurde am 27. September 1878 als Sara Dreyfusz in Eppingen bei Heilbronn geboren. Sie heiratete 1903 den Kaufmann Leopold Moch, der am 27. Januar 1872 in Nonnenweier, das heute zur Gemeinde Schwanau gehört, geboren worden war. Ihr Mann betrieb in Offenburg eine Papier- und Ledergroßhandlung in der Blumenstraße 5, der heutigen Phillipp-Reis-Straße.

Die Mochs bekamen drei Kinder, zuerst die am 29. Mai 1904 noch in Nonnenweier geborene Jenny. Als nächstes erblickte am 26. Juli 1905 Rosa, „Rosl“ genannt, in Offenburg das Licht der Welt, (siehe Biografie Rosa Moch). Sohn Bertold wurde am 27.  April 1907 ebenfalls in Offenburg geboren, (siehe Biografie Bertold Moch).

Die fünfköpfige Familie wohnte über ihrem Geschäft in der Blumenstraße 5. Insgesamt mussten Sara und ihr Mann für die 4-Zimmer-Wohnung und das Geschäftslokal im Erdgeschoss monatlich 110 Reichsmark bezahlen, eine keineswegs überteuerte Miete. Darüber hinaus besaßen sie eine Bibliothek, welche ca. 500 Bücher umfasste.

Ob die Hetze der Nazis die angeschlagene Gesundheit von Ehemann Leopold Moch weiter verschlimmerte, ließ sich nicht mehr herausfinden. Jedenfalls verstarb Saras Ehemann am 22. Juni 1934 an Krebs.

Nach seinem Tod führte Sara das Geschäft bis 1936 fort, dann musste sie es wegen mangelnder Einkünfte aufgeben. Knappe drei Jahre später gelang es ihr, im Juni 1939 Deutschland zu verlassen und zu ihrem Sohn Bertold ins südafrikanische Kapstadt auszuwandern. Für ihre Reise musste sie eine „Judenvermögensabgabe“ von 2120 Reichsmark zahlen, außerdem wurde ihr Wertpapierdepot von den Nazis beschlagnahmt. Die Bibliothek und den Hausrat musste sie zurücklassen.

In Kapstadt stellte sich schnell heraus, dass sie das Klima nicht vertrug. Daher zog sie 1948 zu ihrer Tochter Jenny nach Pittsburgh in Pennsylvania, welche geheiratet hatte und nun den Namen Schey trug. Dort lebte sie bis zu ihrem Tod am 6. April 1952.

 
Sarah Garbe
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2017/18

Grelet, Paula Suse (geb. Greilsheimer)

Foto: Staatarchiv FreiburgPaula Suse Greilsheimer wurde am 24. Oktober 1926 in Freiburg geboren. Ihre Kindheit verbrachte sie bis zum 13ten Lebensjahr in Offenburg. Als einziges Kind von Ludwig und Clothilde Greilsheimer wuchs sie im Elternhaus in der Gymnasiumstrasse 1 auf. Das Gebäude existiert auch heute noch.
 
Im April 1939 ging die Familie für ein paar Monate wieder nach Freiburg zurück. Dort besuchte „Susi“ die jüdische Schule, in der sie sich gut mit den übrigen Schülerinnen verstand.
 
Am 22.10.1940 wurden die Juden aus Baden und der Pfalz von den Nazis in das südfranzösische Internierungslager Gurs deportiert. Auch Susi und ihr Vater waren von der Deportation betroffen und mussten zunächst an ihren alten Wohnort Offenburg zurückkehren. Am Freiburger Bahnhof trafen sich die beiden und fuhren gemeinsam nach Offenburg. Dort mussten sich alle Offenburger Juden in der Turnhalle der damaligen Oberrealschule, dem heutigen Schillersaal, versammeln. Anschließend wurden sie zum Bahnhof geführt, um in Sonderzügen nach Südfrankreich transportiert zu werden. Zwei Tage lang dauerte die Fahrt, die sie in Viehwagen zusammengepfercht überstehen mussten, ohne Nahrung und unter katastrophalen hygienischen Bedingungen.
 
Im Alter von 14 Jahren wurde Susi für sechs Monate im Lager Gurs festgehalten. Danach wurde sie in das Nebenlager Rivesaltes eingewiesen, das für Mütter und Kinder gedacht war. Die Umstände dort waren schlecht, es gab viele Ratten und schlechtes Essen, sodass Susi eine langjährige Niereninsuffizienz mit Gelbsucht davontrug.  Von September 1941 bis März 1942 konnte sie dort jedoch einen Schneiderkurs besuchen, den sie mit einem Zertifikat und der Note „Sehr gut“ abschloss. Im April 1942 kam Susi in ein Kinderheim und entkam danach der Gestapo durch eine schriftliche Erlaubnis, bei ihrer Tante und ihrem Onkeln in Chatel leben zu dürfen.
 
Die Mutter von Susi Greilsheimer war kurz vor der Deportation gestorben. Die Beziehung zwischen Susi und ihrem Vater war dadurch sehr intensiv geworden. Ludwig Greilsheimer schrieb seiner Tochter so oft es ihm möglich war Briefe und Postkarten, in denen er sie nach ihrem Befinden fragte. Auch als er nach Auschwitz deportiert wurde, versuchte er den Kontakt aufrecht zu erhalten. Ludwig Greilsheimer hat Auschwitz nicht überlebt. Er gilt als verschollen.
 
Nach Kriegsende ließ sich Susi in Frankreich nieder. Dort heiratete sie am 26. August 1945 im Alter von 18 Jahren und übernahm den Familiennamen ihres Ehemannes „Grelet“. In Limoges eröffnete sie eine Emaillierwerkstatt für Schmuck. Paula Suse Grelet starb am 4. Januar 2011 im Alter von 84 Jahren.
 
Paula Suse Grelet hat sehr viel getan, um an die Geschichte ihrer Familie zu erinnern. Sie schickte Dokumente an das Offenburger Stadtarchiv und unterstützte dessen Forschungsarbeit. Ihre Heimatstadt Offenburg besuchte sie noch mehrmals. 

 
Kyung-Ae Cho
Gedenkbuch Salmen (Offenburg), 2005

Adler, Max

Max Adler wurde am 23. August 1898 in Offenburg geboren. Er war das erste Kind von Jakob und Sophie Adler und hatte eine jüngere Schwester namens Ida Adler, welche drei Jahre später am 3. Oktober 1901 geboren wurde.

Max vollendete am 31. Juli 1914 das Einjährige, welches mit dem heutigen Realschulabschluss vergleichbar ist. Er begann eine Lehre als Kaufmann, um seinem Vater nachzufolgen, wurde jedoch 1916 zum Wehrdienst einberufen. Nach zweijährigem Einsatz an der Westfront kehrte er 1918 verwundet aus Verdun zurück. Allerdings kehrte er nicht in seine Geburtsstadt Offenburg zurück, sondern ging nach Frankfurt. Dort war er bis zum 17. September 1930 als Provisionsvertreter tätig und wohnte in der Cronberger Straße 22. Kurze Zeit nach der Machtübertragung an die Nazis, noch im Jahre 1933, emigrierte Max Adler nach Paris. Was ihn genau dazu bewogen haben mag, muss unergründet bleiben. Vielleicht war er hellsichtig genug zu sehen, dass die Juden immer mehr aus der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Wahrscheinlich in Paris heiratete er Sophie, eine geborene Bergheimer. Er und Sophie bekamen ein Kind, welches im Jahre 1949 zur Welt kam. Max legte trotz seiner Emigration großen Wert auf den Kontakt zu seiner Familie.

Ida Adler hatte ebenfalls das Einjährige an einer Mädchenschule vollendet. Sie zog am 20. Dezember 1936 nach Frankfurt am Main und kehrte bereits ein Jahr später zu ihren Eltern nach Offenburg zurück. Die Eltern Jakob Adler und Sophie Adler besaßen ein Manufakturwarengeschäft, in welchem hauptsächlich Aussteuerartikel verkauft wurden. Das Geschäft war in Offenburg und Umgebung sehr bekannt. Die Familie hatte ein gutes Einkommen und war finanziell abgesichert. Ab 1933 konnten die Adlers ihr Geschäft nur beschränkt betreiben und schließlich überhaupt nicht mehr. Am 29. März wurde die Firma aus dem Handelsregister gelöscht.

Jakob Adler wurde nach der Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 festgenommen und in das Konzentrationslager in Dachau eingeliefert, wo er nach Misshandlungen am 27. Dezember 1938 verstarb.

Sophie Adler wurde zusammen mit ihrer Tochter Ida am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, von wo sie in das Vernichtungslager Ausschwitz transportiert wurden und dort vermutlich sofort nach ihrer Ankunft ermordet wurden.

Max Adler war der einzige Überlebende der Familie. Er lebte mit Frau und Kind in Paris am Square de Léon Guillot Nr. 1, jedenfalls im Jahr 1958, als seine Frau einen Entschädigungsantrag stellte.

 
Bianca Morgalla
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2017/18

Lion, Karl & Johanna (geb. Sommer)

Foto: Staatrsarchiv FreiburgKarl Lion wurde am 10.01.1879 in Ettenheim geboren. Seine Eltern waren Esther Lion, geb. Kahn, und Jonas Lion, der ein kleines Textilgeschäft besaß. Das Ehepaar hatte acht Kinder.
Karls Ehefrau, Johanna Lion, geborene Sommer, stammte aus Freiburg, wo sie am 16.12.1899 geboren wurde.
Beide waren jüdischer Abstammung und besaßen die Badische Staatsangehörigkeit.

Karl und Johanna heirateten am 19.02.1920 in Baden-Baden. Noch am selben Tag zog Karl nach Offenburg. Johanna folgte ihm knapp einen Monat später aus Freiburg und sie bezogen gemeinsam eine Wohnung in der Bühlerstraße 19. Am 12.11.1920 wurde ihr Sohn Hans Max Friedrich geboren,  am 4.2.1922 ihre Tochter Edith Trude.

Foto: Staatrsarchiv FreiburgKarl Lion war Fabrikant und Mitbesitzer der Zigarrenfabrik „Ullmann & Fetterer“. Die Geschäftsräume lagen in der Okenstraße 101 in Offenburg. Die Fabrik fuhr innerhalb der nächsten Jahre hohe Verluste ein, so dass Karl Lion in den Jahren 1929-1933 bei der Deutschen Bank und der Städtischen Sparkasse in Offenburg stark verschuldet war.
Zur Vermeidung einer Zwangsversteigerung musste Karl sämtliche Sicherheiten und Grundstücke verkaufen. Trotzdem blieb der Deutschen Bank ein erheblicher Ausfall. Die Zigarrenfabrik Karl Lions und seines Partners Max Lion wurde an die Firma „Boos“ verkauft. Die Familie lebte währenddessen seit 1927 in der Franz-Volk-Straße 45, wo sich auch die Stolpersteine des Ehepaars befinden.
Johanna Lion war Hausfrau und kümmerte sich um die Kinder. 1938 sorgte sie dafür, dass ihr Sohn Hans, mittlerweile 18 Jahre alt, nach Nordamerika auswandern durfte. Dies wurde dem Jungen zunächst bewilligt, da keine Steuerrückstände beim Finanzamt Offenburg vorhanden waren und somit keine steuerlichen Bedenken gegen eine Auswanderung ins Ausland bestanden. Hans sollte die Wartezeit bis zu seiner Reise in Frankreich verbringen. Viele Offenburger Juden versuchten während dieser Zeit das Land zu verlassen, da sie vor der Unterdrückung und der Entrechtung der Juden fliehen wollten. Jedoch kam es nie zu der Auswanderung von Hans Max Friedrich Lion. Gründe dafür sind nicht bekannt.

Am 23.02.1939 zogen die Lions in die Gaswerkstraße 17, eins der „Judenhäuser“ in Offenburg. Dort lebten sie unter einem Dach mit den jüdischen Familien Geismar, Grombacher und Hammel. Mietverträge der Bewohner von „Judenhäusern“ konnten jederzeit mit der gesetzlichen Frist gekündigt werden. Auf Verlangen der Gemeindebehörde mussten die Bewohner von „Judenhäusern“ oftmals weitere Juden als Mieter oder Untermieter aufnehmen. Das führte dazu, dass beliebig viele Personen auf engstem Wohnraum zusammen leben mussten und das meist gegen ihren Willen.

Am 22. Oktober 1940 wurden die Lions zusammen mit 4464 anderen badischen Juden, was  so gut wie alle waren, ins „Camp de Gurs“, ein Internierungslager in der französischen Ortschaft Gurs, deportiert. Dort mussten die „Gefangenen“ auf Strohsäcken schlafen, wobei ihnen in den Baracken ein 70 cm breiter Raum zur Verfügung stand. Die „Gefangenen“ wurden oft von ihren Familien getrennt, sie hungerten und schlechte hygienische Bedingungen sowie Krankheiten gehörten zum Alltag im Lager. Die Lions überlebten den dortigen Aufenthalt und wurden dann in das Sammel- und Durchgangslager Drancy gebracht, nordöstlich von Paris.

Am 06.03.1943 wurden sie in das Konzentrationslager Majdanek in Polen deportiert.
Majdanek wird aufgrund seiner hohen Opferzahlen auch als Vernichtungslager bezeichnet. Es gab dort eine Gaskammer und es kam zu Massenvernichtungen durch Erschießen. Dennoch wird heute vermutet, dass 60 Prozent der Opfer durch Zwangsarbeit, schlechte Behandlung und Krankheit umkamen und nicht gezielt ermordet wurden.

Alle Mitglieder der Familie Lion kamen in der NS-Zeit um, Karl Lion wurde am 08.05.1945 „im Osten“ für tot erklärt. 
 

Nasanin ShahrokhiRad und Julia Brendel
Gedenkbuch im Salmen(Offenburg), 2010/11

Maier Simon, Margarete (geb. Maier)

Foto: Stadtarchiv OffenburgMargarete Maier wurde am 29. März 1914 als zweites Kind des Kaufmannes Jakob Maier und seiner Frau Fanny in Offenburg geboren. Ihr Bruder Hans war vier Jahre älter als sie. Margarete besuchte die Volksschule und danach die Oberrealschule, war aber gezwungen, sie ein Jahr vor dem Abitur abzubrechen. Sie ging dann nach Nancy, wo sie Französisch und Geschichte studierte. Das war ihr trotz des fehlenden Schulab-schlusses möglich, da sie keinen Abschluss an der Universität erreichen wollte. Sie plante, Sozialarbeiterin zu werden. Außerdem nahm sie Portugiesisch-Unterricht, da sie annahm, vielleicht nach Südamerika zu kommen. In einigen Ländern dort standen die Chancen für eine Auswanderung gut.
 
Zurück in Deutschland musste Margarete die Auswirkungen der Diskriminierung von Juden auch im privaten Umfeld erfahren: Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten sprachen ehemalige Mitschüler und sogar Freunde nicht mehr mit ihr, weil sie nicht mit Juden gesehen werden wollten. Das Herrenbekleidungsgeschäft ihrer Eltern in der Hauptstraße 69 wurde 1935 geschlossen, weil die Menschen nicht mehr bei Juden einkaufen wollten.
 
Als Margarete in Hamborn (Nordrhein-Westfahlen) Verwandte besuchte, lernte sie den neun Jahre älteren Zahnarzt Rudolph Simon, ebenfalls ein Jude, kennen. Sie verliebten sich ineinander und wollten im Februar 1938 heiraten. Als sich jedoch die Situation der Juden zuspitzte und Rudolph Auswanderungspapiere bekommen konnte, verließ er Deutschland und ging in die USA, wo er Papiere für Margarete besorgen wollte. Schließlich konnte sie ihm folgen. Sie kam nach Chicago und am 31. Oktober 1938 heirateten die beiden mit Fremden als Trauzeugen. Margarete nannte sich von nun an Margaret, ihr Mann verkürzte seinen Namen zu Rudy.
 
Das Leben in ihrer neuen Heimat war für Margaret und Rudy zunächst von vielen Umstellungen geprägt. Rudy musste seinen Beruf als Zahnarzt aufgeben, da er, um in den USA praktizieren zu dürfen, ein Zusatzstudium benötigt hätte. Das kam aber aus finanziellen Gründen nicht in Frage und beide nahmen verschiedenste Jobs an, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und auch Margarets Eltern in die USA holen zu können. Die Eltern hatten sogar schon Papiere, konnten die Reise aber niemals antreten. Im Oktober 1940 wurden sie nach Gurs deportiert, später nach Auschwitz, wo sie im Mai 1945 für tot erklärt wurden.
 
Rudy fand eine Anstellung als Verkäufer bei einem Stoffunternehmen, während Margaret nach der Geburt ihrer gemeinsamen Kinder Norman (1942) und Evelyn (1947) zunächst Hausfrau und Mutter war. Später arbeitete sie bei derselben Firma wie ihr Mann, allerdings in einer anderen Abteilung, die für das Design von Theaterkostümen zuständig war. Margaret konnte dort ihre Kreativität und ihr Talent zum Nähen einbringen.
 
Sie und ihr Mann lebten bis ins hohe Alter in Chicago. Rudy ist im Januar 2000 im Alter von 94 Jahren gestorben, Margaret starb am 6. September 2009 im Alter von 95 Jahren.
 
Ihre Tochter Evelyn beschreibt sie als eine sensible und fürsorgliche Frau, der ihre Religion sehr wichtig ist. Das hängt mit ihrer Erziehung zusammen, aber Evelyn sieht noch einen anderen Grund:
 
„Ich glaube, dass der jüdische Glaube meiner Mutter viel Trost spendet. Schließlich ist er eines der wenigen Dinge, die die Nazis ihr nicht wegnehmen konnten. Ihre Eltern und andere Familienmitglieder waren fort. Die ganze Welt, wie sie sie gekannt hatte, war fort. Aber ich glaube, sie hatte das Gefühl, dass Gott und ihre Religion ihr Trost und Vertrautheit brachten, in einer Welt, die aus den Fugen geraten war.“
 
Was sie in Deutschland, in Offenburg, erlebt hat, konnte Margaret für den Rest ihres Lebens nicht vergessen. Auch ihr Alltag ist davon beeinflusst. Aber sie ist eines der Beispiele für Menschen, die den Holocaust überlebt und ein neues Leben angefangen haben; mit Mut, harter Arbeit, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt Vertrauen in Gott.

 
Dunja Rühl
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2006/07

Gutmann, Jakob & Marta (geb. Mendelsohn)

Foto: Staatsarchiv FreiburgJakob Gutmann wurde am 24.04.1851 in Dreglingen geboren. 1888 zog er von Kehl nach Offenburg in die Lange Str. 452. Jakob lernte seine erste Frau Emilia Gutmann, geborene Kahn (geb. 09.02.1849 in Diersburg) in Offenburg kennen.
 
Am 20.04.1878 kam Julius Gutmann, der Sohn von Jakob und Emilia Gutmann, auf die Welt. Die Familie zog vorerst nach Sinsheim (21.07.1897), später nach Rastatt, bis sie schließlich in Offenburg in der Gerberstr. 16 am 15.04.1912 ihren festen Wohnsitz fanden.
 
Jakob Gutmann erlitt zwei schwere Schicksalsschläge, die ihn persönlich sehr tief bewegten:

  1. Sein Sohn Julius Gutmann starb am 31.08.1918 im Alter von 40 Jahren in der psychiatrischen Anstalt Illenau bei Achern.
  2. Seine erste Frau Emilia Gutmann starb im Alter von 71 Jahren in Offenburg.

Jakob Gutmann verließ die gemeinsame Wohnung und zog am 01.01.1928 in die Hauptstraße 100. Ein Jahr später wechselte er ins Altersheim in der Kornstraße 9.
 
Foto: Staatsarchiv FreiburgMarta Mendelsohn, seine zweite Frau, wurde am 12.06.1866 in Breslau geboren. Sie zog am 10.12.1930 von Zittau in Sachsen nach Offenburg. Ende 1930 heiratete der Kaufmann Jakob Gutmann Marta Mendelsohn. Damals war Marta schon 64 Jahre und Jakob 79 Jahre alt, was sehr ungewöhnlich war. Ihre erste gemeinsame Wohnung war in der Badstraße 6, in der sich auch die „Alt und Möbelhandlung“ (Badstraße 1), welche auf seinen Namen angemeldet war, befand.
 
Das Ehepaar Gutmann entschloss sich am 01.11.1932, in die Wilhelmstraße 5 umzuziehen. Dort lebten sie knapp acht Jahre bis zum nächsten Umzug. Dieser führte sie am 24.07.1940 in die Otto-Wacker-Straße 5. Nahezu ein Jahr später, am 18.02.1941, fand ein vierter gemeinsamer Umzug in die Okenstraße 3 statt.
 
Am 21.08.1942 holte die Gestapo das Ehepaar aus ihrer Wohnung und deportierte sie ins Konzentrationslager in Theresienstadt. Ihr Wohnungsbestand wurde aufgelöst und versteigert. Im KZ herrschten sehr schlechte Lebensbedingungen. Jakob Gutmann starb im September 1942 mit 91 Jahren an den Folgen schlechter Ernährung.
 
In einem Brief vom 05.05.1947 an Susi Greilsheimer berichtete Marta von Jakobs Tod und schrieb, sie leide seelisch sehr darunter. Als Witwe kehrte Marta am 26.10.1945 wieder nach Offenburg zurück in die Friedrichstraße 7. Nicht einmal vier Monate später, am 08.02.1946, wechselte sie wieder ihren Wohnsitz. Sie wohnte nun in der Stegermattstraße 8. In dem vorher erwähnten Brief erfährt man, dass Marta nur auf den richtigen Moment wartete, um Deutschland verlassen zu können. Sie schrieb: „… und wenn ich Gelegenheit hätte, würde ich sofort Deutschland verlassen, für uns ist es auch für Geschäfte sehr schlecht und den Antisemitismus merkt man auch.“
 
Man kann sich vorstellen, dass das Leben für Marta auch nach dem Krieg schwieriger und einsamer geworden war: „…ich bin die einzige Jüdin, die hier ist, und wenn eine Gelegenheit geboten wird, gehe ich auch fort.“
 
Von ihrem Besitz, der ihr zuvor genommen wurde, bekam Marta nur einen Bauerntisch zurück. Am 02.11.1949 ließ sie sich in das gleiche Altersheim, in dem auch schon ihr verstorbener Mann Jakob Gutmann gewohnt hatte, in der Kornstraße 9 einweisen. Schließlich ging sie am 01.08.1952 nach Heidelberg, wo sie am 04.08.1953 starb. Sie wurde 87 Jahre alt.
 
 
Julia Heiberger und Marina Ekkart
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2006/07

 
Quellen:
Ruch, Martin – „Jüdische Stimmen“ (Offenburg 1995)
Meldekarte von Jakob Gutmann
Meldekarte von Marta Gutmann, geb. Mendelsohn
Adressbücher der Kreishauptstadt Offenburg von 1913/14 – 1952

Maier, Hans Louis

Hans Louis Maier wurde am 28.11.1910 als eines von zwei Kindern in Offenburg geboren. Zusammen mit seiner vier Jahre jüngeren Schwester Margarete, genannt Gretel, und den Eltern Jakob und Fanny wuchs er in Offenburg in der Kornstraße auf. Der Vater Jakob führte erfolgreich ein Konfektionsgeschäft und war in Offenburg nur als ‚Hosen-Maier‘ bekannt.
 
Nachdem Hans vier Jahre die Volksschule besuchte, machte er 1929 sein Abitur am Schiller-Gymnasium. Dies ermöglichte ihm ein Medizinstudium an der Uni Freiburg.
1931 wechselte er jedoch an die Uni Würzburg und ein Jahr später an die Uni Jena. Insgesamt studierte er sieben Semester Medizin. Es war ihm aber nicht möglich, sein Studium zu beenden. Schon 1933 war die Judenfeindlichkeit so groß, dass es Hans Louis als jüdischem Bürger bei einem Medizinpraktikum im Krankenhaus nicht erlaubt war, bei der Patientenvisite dabei zu sein. Daher verließ Hans Louis 1933 Deutschland, um in Straßburg weiter zu studieren. Aber auch das wurde ihm verweigert, da dafür das französische Abitur nötig gewesen wäre. Frankreich wieder zu verlassen, kam jedoch nicht in Frage, also zog er nach Paris und verdiente mit Gelegenheitsjobs seinen Lebensunterhalt.
 
1937 erhielten die Eltern eine Hochzeitseinladung von Hans. Daraufhin beantragen Jakob und Fanny einen Ausreiseantrag für den 12. August 1937, an dem die Hochzeit stattfinden sollte. Weitere Informationen über die Hochzeit und die Ehe der beiden deutschen Auswanderer sind nicht bekannt, außer, dass die Ehe später wieder geschieden wurde. Möglicherweise scheiterte die Beziehung auch an Hans’ Internierung 1939 zu Beginn des Krieges.
 
Schon vor Kriegsausbruch hatte Hans mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen. Er erhielt zum Beispiel nie eine Arbeitserlaubnis, die ihm einen festen Arbeitsplatz gesichert hätte. Bei Kriegsausbruch wurde er als feindlicher Ausländer hinter Stacheldraht gefangen gehalten; zuerst im Stadion Colombes, danach in Marolles bei Blois in einem militärisch bewachten Lager. Dann wurde er vor die Entscheidung gestellt, gefangen zu bleiben oder sich bei der Fremdenlegion zu melden. Er entschied sich für die Fremdenlegion und wurde 1940 zusammen mit 240 Landsleuten als Legionär nach Afrika entsandt. Er wurde nie als vollwertiger Legionär angesehen und ihm wurde auch nie ein Gewehr anvertraut.
 
Im Mai 1940 wurde er dann zusammen mit anderen Deutschen nach Ouargla in die „Compagnie de travailleurs étrangers n°2 Polomb-Bechau“ gebracht. Die Kompanie war besiedelt von Deutschen, Spaniern und Menschen aus vielen anderen Nationalitäten, darunter zahlreichen Juden. Der Ort im tiefsten Südosten der Sahara war für ihn die „Hölle auf Erden“. Schon nach einigen Wochen wurden 150 von den 200 Männern wegen Malaria oder Ruhr zurück geschickt. Trotz schwerer Malariaanfälle hielt Hans es in der Sahara aus. Das Klima war für den Europäer unerträglich und die unzureichende Ernährung und die schlechten hygienischen Verhältnisse zehrten zusätzlich an ihm. Die Arbeiter mussten teilweise in Kohlegruben, teilweise im Wegebau arbeiten. Hans wurde im Straßenbau eingesetzt. Er hatte Glück, Lastwagen fahren zu können und nicht mit Hacke und Schaufel arbeiten zu müssen.

Seine Malariaanfälle häuften sich und am 26. August 1941 wurde bei ihm zusätzlich Ruhr diagnostiziert. Anfang Februar 1943 wurde das Arbeitslager dann von englischen Behörden aufgelöst.
 
Am 1. April wurde Hans entlassen, um der englischen Armee beizutreten. In der englischen  Armee blieb er bis Mai 1946, zuerst in Algerien, später in Italien. Er musste zwar noch als Soldat dienen, war nach der harten Zeit im Arbeitslager nach eigener  Aussage aber wieder ein freier Mensch. 1946 kehrte er nach Paris zurück. Dort war er dann als Vertreter für verschiedene französische Firmen tätig, unter anderem auch als Reisevertreter. Doch keiner der Jobs konnte ihn erfüllen und so plante er bald, nach Offenburg zurück zu gehen. Hier wollte er sich eine neue Existenz aufbauen. Ihm gefiel es in Frankreich nicht und er fühlte sich immer mit Offenburg verbunden. Seine letzte Tätigkeit als Vertreter in Frankreich hatte er bei der Firma SDN (Société de Distribution de Nouveautés), die in Frankreich deutschen Schmuck vertrieb.
 
Nachdem er sich viele Jahre mit einer Rückkehr nach Deutschland beschäftigt hatte und auch jedes Jahr mehrmals Urlaub in Offenburg gemacht hatte, verwirklichte er am 16. April 1958 sein Vorhaben, nach Offenburg überzusiedeln. Aus Frankreich brachte er ein Startkapital von 2000 FF mit. Um sich jedoch ein Geschäft aufzubauen, benötigte er zusätzlich Entschädigungsgeld für die überstandenen Qualen in Frankreich und für die fehlende Ausbildung. Da der Prozess jedoch sehr langwierig und schwierig war, musste er sich sein Geschäft ohne weitere Unterstützung aufbauen. Deshalb mietete er ein Bürozimmer in der Friedrichstraße in Offenburg. Er verkaufte seine Musterkollektion mit Perlenimitaten, die er aus Frankreich mitbrachte und Schmuckwaren von deutschen Firmen, insbesondere aus Pforzheim. Seine Mittel waren sehr gering und deshalb musste er stark haushalten. Am 1. Oktober 1959 musste er sein Geschäft jedoch wieder abmelden, da es nicht florierte und er sogar Verluste machte. Obwohl er den Entschluss gefasst hatte, nicht wieder nach Frankreich zurückzukehren, könne er in Deutschland nicht Fuß fassen, ging er wieder nach Frankreich zurück, da ihm eine Festanstellung bei Automobil Renault angeboten wurde. Sein Traum war es jedoch, wenigstens seinen Lebensabend in seiner Heimatstadt verbringen zu können. Dieser Traum erfüllte sich leider nie für ihn. Sein weiterer Lebensweg ist nicht bekannt.
 
 
Kristin Weber
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2010/11

Kahn, Hannelore Fanny

Foto: Staatsarchiv Freiburgbzw. Chanah Hannelore Avnon

 
Hannelore Kahn wurde am 14. September 1925 geboren. 1933 ging sie auf die Volksschule bis zur 4. Klasse. Anschließend erlaubten es ihr die Gesetze der Nationalsozialisten nicht mehr, die höhere Schule zu besuchen, also lernte sie in der Klosterschule bis zum 10. November 1938 (d.h. Mitte Quarta). Von diesem Datum an konnte sie in Offenburg keine Schule mehr besuchen. Deshalb fuhr sie 1939 für einige Monate nach Karlsruhe in die jüdische Schule, bis kurz vor dem Krieg. Sie selbst schreibt über diese Zeit: „Auch vor 1938 kann ich mich nicht erinnern, dass ich jemals ins Kino oder Schwimmbad oder sonstige Veranstaltungen gehen konnte, da überall geschrieben stand Juden und Hunde unerwünscht.’“
 
Im Januar 1940 ging sie in ein Vorbereitungslager (Zentrum für Israel) in Schniebincken, im September desselben Jahres wurde sie wegen einer Blinddarmoperation zur Erholung nach Hause geschickt. Doch von Erholung war keine Rede, bereits am 22. Oktober 1940 wurde sie zusammen mit ihren Eltern nach Gurs deportiert. Sie war damals fünfzehn Jahre.
 
Die Familie Kahn hatte mehrmals versucht, eine Auswanderung in die USA oder nach Holland zu beantragen. Im April 1939 wurde sogar die Auswanderung nach Amerika bestätigt. Aus nicht bekannten Gründen erfolgte diese aber nicht, und so wurde die Familie, wie fast alle badischen Juden, deportiert und einem grausamen Schicksal überlassen. Von Gurs wurden sie im Frühjahr 1941 in das Lager Rivesaltes deportiert. Während ihre Eltern dort blieben, kam Hannelore am 13. Juli 1942 in ein katholisches Kinderheim in Vic-sur-Cere.
 
In den folgenden zwei Monaten musste sie sich mehrere Male in den Bergen verstecken, da die französische Polizei nach deutsch-jüdischen Kindern suchte. Im September wurde sie in ein Kloster bei St. Flour gebracht, wo sie sich verborgen halten musste, bis die Razzien in dem Bezirk nachgelassen hatten. Anschließend kam sie zurück nach Vic-sur-Cere, wo sie nach einigen Wochen von der jüdischen Untergrundbewegung falsche Papiere bekam, die auf den Namen Helen Keller ausgestellt waren. Mit diesen Papieren kam sie dann bei einigen Familien in mehreren Orten Frankreichs als Hausgehilfin unter, jedoch immer nur für einige Tage. Im Januar oder Februar 1943 kehrte Hannelore abermals nach Vic-sur-Cere zurück, von wo aus sie März oder April in ein anderes Kinderheim in der Nähe von Moutiers zum Arbeiten geschickt wurde. Moutiers war damals italienisch besetzt. Hier gelang es ihr im Sommer 1943 von der Präfektur in Chambery neue Papiere zu erlangen. Auch in Moutiers musste sie sich wegen ihres jüdischen Aussehens und wegen ihrer mangelnden Sprachkenntnisse oft verstecken.
 
Im September 1943 – die Italiener waren inzwischen abgezogen – führte die Gestapo nachts Haussuchungen durch. Um einer Verhaftung zu entgehen musste Hannelore mitten in der Nacht flüchten. Es gelang ihr zusammen mit einer anderen jüdischen Familie in eine kleine Ortschaft zu flüchten und zu entkommen. Sie versteckte sich mit sechs weiteren Personen in einem Zimmer, wo sie sich bis März, also fünf Monate lang, verborgen hielt. Wegen der ständigen Haussuchungen durch die deutsche Gestapo wurde die Situation unerträglich. Hannelore flüchtete deshalb im März 1944 allein nach Lyon. Sie hielt sich zeitweise in Lyon und auch in St. Etienne bei bekannten Familien auf, die ihr Unterschlupf gewehrten und bei denen sie ihren Lebensunterhalt als Aushilfe verdiente. Wegen ihrer mangelhaften Sprachkenntnisse konnte und durfte sie auch hier nicht in die Öffentlichkeit. Trotz vieler Kontrollen und Haussuchungen durch die deutsche Wehrmacht gelang es Hannelore, die Befreiung durch die französische Armee im Sommer 1944 zu erleben.
 
1945 lernte sie in Limoges die jüdische Gemeinde kennen, eine Jugendgruppe, die mit ihr zusammen 1945-46 Pläne für Palästina schmiedete. Ihr Vater war bereits im August 1941 verstorben, die Mutter war 1945 in Auschwitz für tot erklärt worden,  und so hielt sie nichts mehr in Europa. Im Februar 1946 gelangte Hannelore mit einem illegalen Schiff von Marseille nach Israel. Damals war sie 21 Jahre alt. Dort hat sie sich von Hannelore in Chanah umbenannt und sich  mit einer Gruppe von Jugendlichen in dem Kibutz Galed niedergelassen. Der Name Galed steht für die Erinnerung an die Eltern, die in Deutschland vernichtet wurden. Zusammen mit den anderen jungen Leuten lebte sie zunächst in Zelten auf einem Hügel.
 
1947 heiratete Chanah und im Februar 1948 wurde ihre erste Tochter geboren. Das war während des Befreiungskrieges. Der Kibutz war von Arabern umgeben, und viele Männer waren Soldaten, es war also eine schwere Zeit. Doch die Frauen waren stark, und es gab genug zu essen. So überstand Chanah auch diesen Krieg, zusammen mit Mann und Tochter. Sie arbeitete in dem Babyhaus des Kibutz, da in diesem Jahr viele Babys geboren wurden. Das Babyhaus war das erste Haus, in dem es Elektrizität, warmes Wasser und eine normale Toilette gab. Das war nichts Ungewöhnliches am Anfang einer neuen Siedlung. Chanah selbst wohnte mit Mann und Tochter in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Im Dezember 1951 wurde ihre zweite Tochter geboren. Die folgenden 22 Jahre arbeitete sie in der Hühnerzucht des Kibutz. Ihre Töchter wohnten im Kinderhaus. Ein Jahr später bekamen sie eine Zwei-Zimmer-Wohnung und lebten in sehr einfachen Verhältnissen, aber so war die Entwicklung im ganzen Land, besonders im Kibutz. Im selben Jahr fuhr auch schon der Bus, zweimal täglich nach Haifa und einmal täglich nach Tel-Aviv. Das Leben verbesserte sich somit Schritt für Schritt.

1957 war Chanah Avnon  zum ersten Mal wieder in Offenburg und besuchte ihren Vetter, ebenso ihre Schwester in Schweden.

Seit 1972 arbeitet sie aus gesundheitlichen Gründen in der Nähstube des Kibutz. Ihre Töchter sind beide verheiratet und haben ihr sechs Enkeltöchter geschenkt. 1980 zog Chanah Avnon mit ihrem Mann in eine 2 ½ Zimmerwohnung mit Garten, Wiese und Bäumen. Ihr Mann starb 1992. Zwei Jahre später hatte sie Brustkrebs und wurde operiert, sie hat jedoch alles gut überstanden. Heute ist sie 81 Jahre alt. Sie arbeitet täglich 3-4 Stunden in der Nähstube und geht zum Mittagessen in den Speisesaal des Kibutz. Sie schrieb mir in einem Brief:
„Meine schönste Freude sind meine 5 ½ Urenkel und der schöne Familienkreis. Und hier im Kibutz werden wir, die alles aufgebaut haben, gut versorgt. Meine Wohnung ist mit Air-Conditioning gekühlt oder gewärmt, ich habe eine Mikrowelle und einen Kühlschrank mit Gefrierfächern. Auch sehe ich in der Television ‚Wer wird Millionär’.“
 
Chanah Hannelore Avnon musste Furchtbares in ihrer Jugend erleiden. Diese war geprägt von der grausamen Verfolgung durch die Nationalsozialisten und der Vernichtung ihrer Eltern. Trotzdem konnte sie sich durch harte Arbeit in Israel ein erfülltes Leben aufbauen und eine Familie gründen, die sie sehr glücklich macht.
 

Maren Falk
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2006/07