Cohn, Esther

Am 18. September 1926 erblickte Esther Lore Cohn als älteste Tochter von Sylvia und Eduard Cohn in Offenburg das Licht der Welt. „Ein rosa Strampelchen, 6 Pfund 350 gr. schwer, mit hellen, braunen Guckerchen, vielen braunen Härchen, einem Stupsnäslein, einem süßen fein geformten Mündchen, das zur Begrüßung die ersten hellen Schreie hören ließ, ohne sich lang bitten zu lassen…“ So beginnt das Tagebuch für Esther, das Mutter Sylvia gleich nach der Geburt liebevoll für ihre erste Tochter anlegte.

Durch diese Tagebucheinträge, die Mutter Sylvia, aber auch Vater Eduard ausführlich pflegten, sind der heutigen Generation alltägliche, aber auch besondere Begebenheiten aus dem Familienleben und -schicksal der Familie Cohn überliefert worden. Vor allem aber auch dienen diese Einträge oft als wichtige Zeugen der Geschichte der einst großen Jüdischen Gemeinde Offenburgs.

Esther Cohn entstammte aus einer alten Offenburger Kaufmannsfamilie. Die Großeltern waren der aus Unterfranken stammende Weinhändler Eduard Oberbrunner (1860 – 1932) und seine aus Offenburg gebürtige Frau Emma, geb. Kahn (1865 – 1922). Eduard Oberbrunner kam 1884 nach Offenburg und gründete im gleichen Jahr seine Weinhandlung und Branntweinbrennerei. Esthers Mutter Sylvia (geb. 1904) war die jüngste von fünf Töchtern. An ihrem 21. Geburtstag, dem 5. Mai 1925, heiratete Sylvia den Kaufmann Eduard Cohn aus Westpreußen.

Im Jahr darauf wurde Esther Lore geboren. Myriam Ruth (geb. 1929) und Eva Judith (geb. 1931) vervollständigten das Glück der jungen Familie Cohn, das ihnen jedoch nur für kurze Zeit gegönnt war. Denn bereits im zarten Alter von vier Jahren erfolgte der erste tragische Einschnitt in das so gut behütete und liebevoll gepflegte kleine Leben der Esther Cohn, die als Augapfel ihrer Eltern galt.

Ab dem Herbst 1930 musste die kleine Esther mit mehreren schweren Krankheiten kämpfen. Einer Keuchhustenerkrankung folgten Diphterie und Spinale Kinderlähmung und schließlich warf eine doppelseitige Lungenentzündung das Kind erneut zurück auf die Grenze zwischen Leben und Tod. An einem Bein und einem Arm bemerkte man später noch die Folgen der schweren Erkrankung. Esther musste einen orthopädischen Schuh tragen und konnte nicht mehr so frei springen, spielen und sich bewegen.

Im Jahr 1931 musste Esthers Großvater Eduard Oberbrunner mit seinem Geschäft Vergleich anmelden. Eduard Oberbrunner war schon lange leidend, aber sicher hat der Zusammenbruch seines Geschäftes seinen schnellen Tod 1932 mit verursacht.

Nach und nach kehrte wieder Ruhe und Alltag in der Familie ein. In der Zeit von Hitlers Machtergreifung 1933 bis 1938 arbeitete Vater Eduard als Handelsvertreter und war oft unterwegs auf Reisen. Mutter Sylvia versorgte zu Hause die drei Kinder. Die Geschäfte gingen schlecht und schlechter. Sorgen bestimmten den Alltag und das Denken – auch das der Kinder.

Auch in Offenburg wurde am 10. November 1938 die Synagoge zerstört und alle männlichen Juden über 18 Jahre zusammengetrieben, für einen Tag ins Gefängnis eingesperrt und tags darauf ins KZ Dachau deportiert. Darunter befand sich auch Vater Eduard. Esthers Vater war vom 10.11. bis 20.12.1938, also für sechs lange Wochen, in Dachau eingesperrt. Er wurde entlassen, mit der Auflage, dass er binnen sechs Monaten Deutschland zu verlassen habe und nicht über seine Inhaftierung sprechen dürfe. Im Mai 1939 gelang endlich dem Vater die Emigration nach England. Von dort aus versuchte er alles, um seine Familie ebenfalls aus Deutschland heraus zu holen. Mutter Sylvia blieb gar nicht gerne alleine mit den drei Töchtern in Offenburg zurück.

Schließlich konnte sie mit den drei Mädchen am 3.10.1939 nach München in Sicherheit gebracht werden. Esther kam in München in das jüdische Kinderheim Antonienstraße, da der Schulweg von fünf Kilometern täglich mit der Straßenbahn einfach zu beschwerlich war. Zum Eintritt in das Kinderheim wünschte sich Esther von ihrer Mutter ein Tagebuch. Das bekam sie zu Chanukka geschenkt. Im März 1940 reiste Mutter Sylvia mit Eva und Myriam nach Offenburg zurück, da die Gefahr dort vorerst vorüber war. Esther hingegen blieb in München im Antonienheim. Sie sollte es dort besser haben als in Offenburg, wo sie ständig mit der Bahn zur jüdischen Schule nach Freiburg hätte fahren müssen. Eva und Myriam fuhren wieder, wie vor ihrer Münchener Zeit, von Offenburg nach Freiburg zur Schule.

Im Oktober 1940 wurden Sylvia und ihre Töchter Eva und Myriam zusammen mit ca. 6500 jüdischen Menschen aus Baden und der Pfalz nach Gurs in Südfrankreich deportiert, von dort nach Rivesaltes. Mutter Sylvia schickte man über Drancy nach Auschwitz, wo sie am 30.9.1942 ermordet wurde. Eva und Myriam gelang die rettende Flucht in die Schweiz, dank einer Hilfsorganisation. In einem Kinderheim in Ascona blieben sie bis Kriegsende und konnten mit Vater Eduard schließlich in England ein Wiedersehen erleben.

Esther war im Münchener Kinderheim bestens untergebracht. Ihrem Tagebuch widmete Esther ihre ganzen Gedanken, Wünsche, Hoffnungen und Sehnsüchte. Des Weiteren beschrieb sie detailliert den Alltag im Kinderheim und ihre Mitbewohner. Esther war sehr oft krank. Doch sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Ihre größte Sorge galt immer nur ihrer Familie und am wenigsten ihrer eigenen Person. Im Dezember 1940 zog sich Esther bei einem Sturz einen Unterschenkelbruch zu. Selbst von dort aus der Klinik kümmerte sie sich um alle anderen. „Inzwischen sind wir nun besternt worden“, so sachlich klang der Eintrag von Esther am 21.10.1941, „…und es ist gar nicht schlimm, im Gegenteil, die Leute sind sehr sehr nett zu uns.“

Im März 1941 machte sie Ihren Abschluss an der Israelitischen Volksschule mit besten Noten. Esther durfte sogar als besondere Auszeichnung für ihre erbrachten Leistungen die Abschlussrede halten. Nachdem Esther die Schule beendet hatte, durfte sie im Kinderheim bleiben und wurde dort zunächst im Kindergarten tätig. Es traf sie sehr, als am 20.11.1941 insgesamt 21 Kinder aus dem Heim deportiert wurden. Das Kinderheim Antonienstraße musste am 11.4.1942 geräumt werden und die Kinder und Jugendlichen mit ihren Erziehern wurden in der Knorrstraße 148 in dem „Judenlager Milbertshofen“ untergebracht.

„Ihr braucht Euch gar keine Sorgen um mich zu machen, denn mir geht‘s prima, ganz bestimmt“, so beendet Esther einen Brief an eine Tante, den sie am 14. April 1942 schrieb. Esther hatte die außergewöhnliche Gabe, jeder noch so aussichtslosen Situation irgendetwas Positives abzugewinnen und dadurch ihre Mitmenschen immer wieder zu motivieren, zu beruhigen und wieder aufzubauen. In der Woche nach dem 2. Juni 1942 wurden das gesamte Kinderheim sowie auch kranke Leute aus der Siedlung zum Abtransport bestimmt. Nur wenige Monate blieb Esther in Milbertshofen. Am 29. Juli 1942 wurde sie nach Theresienstadt deportiert. Zwei Jahre später wurde sie mit dem Transport vom 16. Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht. Dort endete das Leben einer mutigen und bewundernswerten jungen Frau, die trotz ihres großen Leidens und der grässlichen Lage, in der sie sich befand, eine besondere Einstellung zum Leben hatte.

Isabella Busch
Gedenkbuch im Salmen (Offenburg), 2007

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